• Niklaus Sägesser im hellen, freundlichen Raum, der schon bald als Kita für Flüchtlingskinder dienen wird. · Bild: Liselotte Jost-Zürcher

24.03.2017
Region

Alte Filzfabrik wird Übergangswohnheim

Kein «Gstürm» wie etwa in Seelisberg und keine langen Gesuchsverfahren: In einer Rekordzeit von nur gerade einem Jahr hat der gebürtige Huttwiler Niklaus Sägesser sein altes Filz-Fabrikgebäude in Enggistein in ein Übergangsheim für Flüchtlinge umgebaut und eingerichtet – auf eigene Kosten. Ab dem 20. April werden hier 25 Erwachsene und 40 Kinder einziehen.

Enggistein · «Das gibt Leben in die Bude», strahlt Niklaus Sägesser beim Besuch des «Unter-Emmentaler». Er steht im gemütlichen, hellen Dachraum, der in gut einem Monat als hauseigene Kita eingerichtet sein wird. Denn die 65 anerkannten Flüchtlinge, die hier einziehen werden, bereiten sich im neuen, betreuten Übergangswohnheim auf die Selbständigkeit vor. Sie werden so weit als möglich einer Arbeit nachgehen und im Spezialunterricht Deutsch lernen. Das Fabrikgebäude an der Strasse zwischen Worb und dem Dorfzentrum von Enggistein, etwa 500 m vom Ortskern weg, gehört zur Filzfabrik Fissco AG, deren Inhaber der gebürtige Huttwiler Niklaus Sägesser ist. Die Fabrik mit ihrer 175-jährigen Geschichte (siehe Kasten) ist weiterhin in Betrieb. In der Halle entlang der Strasse wird jedoch nicht mehr produziert. Der ÖV-Anschluss ist ideal. Unmittelbar vor der Haustüre befindet sich eine Postauto-Haltestelle.
Als Niklaus Sägesser das weltweit veröffentlichte Bild des toten Flüchtlingsbübchens sah, welches bei der Überfahrt im Meer ertrunken war, da wusste er: «Ich will etwas tun. Und ich kann etwas tun.» Er wollte sein leeres Gebäude umbauen und für Menschen zur Verfügung stellen, die in der Schweiz ein neues Leben beginnen. Nicht nur aus wohltätigen, sondern auch aus unternehmerischen Gedanken heraus. Er wollte das Gebäude sinnbringend vermieten. Es gibt ihm dann die Möglichkeit in eine Maschine zu investieren und den Unterhalt der Liegenschaft zu sichern.

Gründlich abgeklärt
Das war anfangs 2016. Bei ORS Service AG Zürich, dem spezialisierten Unternehmen für Flüchtlingsbetreuung, erkundigte er sich nach den Bedingungen, welche ein Gebäude für die Unterbringung von Flüchtlingen erfüllen muss. Ein ORS-Mitarbeiter reiste nach Enggistein, erkannte die prädestinierte Lage und Strukturierung des alten Fabrikgebäudes und die Möglichkeiten, welche dieses bot. Er befand, dass das Gebäude für 120 Flüchtlinge eingerichtet werden könnte.
Der nächste Schritt Sägessers war der Kontakt zum Migrationsdienst, welcher zum selben Schluss kam wie der ORS-Mitarbeiter: Ideal für die Aufnahme von 120 Flüchtlingen.
Nun schaltete Niklaus Sägesser die Gebäudeversicherung ein, um die brandtechnischen Sicherheitsmassnahmen abzuklären. Dann wandte er sich an die Gemeindebehörde. Hier fand er Zustimmung, lehnte aber ab, als er gefragt wurde, ob man diesbezüglich etwas für ihn tun könne; er «tat selbst», wollte auch selbst die Bürgerinnen und Bürger informieren, «denn sie sollten sehen, dass eine Person, ein Kopf, und keine Behörde hinter der Idee steckt». Dazu organisierte er einen Informationsanlass, wo die rund 80 Personen, die erschienen, Fragen stellen und ihre Ideen einbringen konnten. Auch der Gemeindepräsident brachte die Situation der Gemeinde Worb ein. «Es war ein recht guter Groove», blickt er zurück.
Schnell zeichnete sich allerdings ab, dass 120 Neuankömmlinge Bedenken hervorriefen. Gemeinsam mit den eingeschalteten Behörden entschied er, die Zahl auf 65 zu begrenzen. Der Informationsanlass fand am 30. März 2016 statt.
Bei der Bauverwaltung der Gemeinde Worb holte er anschliessend eine Dokumentation und eine Checkliste, um das Baugesuch zusammenstellen zu können. Innerhalb einer Woche – «der Planer und ich arbeiteten fast Tag und Nacht» – reichte er das Baugesuch ein. Mit einer Null-Fehler-Quote; es passierte die Behörden in Rekordzeit. Zwei Einsprachen konnten sauber und transparent behandelt werden. In der Zwischenzeit hatte sich Niklaus Sägesser auch mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion in Verbindung gesetzt ,mit welcher er einen Mietvertrag abschliessen konnte. Schlussendlich wurde das Rote Kreuz Kt. Bern als Betriebsgesellschaft ausgewählt.

Alle Beteiligten ins Boot genommen
«Mir war klar, dass ich von Anfang an alle Beteiligten ins Boot holen musste», so der initiative Unternehmer. Es sei wichtig, dass man miteinander rede. Im Laufe des Frühjahrs 2017 nahmen die fast ausschliesslich regionalen Handwerker ihre Arbeit auf. «Das kommunale Denken ist wichtig.»
Jedes Stockwerk erhielt eigene Infrastrukturen wie geschickt eingerichtete, für «Mann und Frau» getrennte sanitarische Anlagen, Küche und Aufenthaltsraum. Zudem wurden im Erdgeschoss ein grosser, teilbarer Schulraum und im Dachgeschoss eine Raum für eine mögliche Kita oder einen Kindergarten eingerichtet. Alle Räume sind taghell, alle einfach, aber zweckmässig ausgerüstet.
Der Ausblick auf die Alpen ist beneidenswert, derjenige auf der andern Seite des Gebäudes, auf den Wald, ebenfalls idyllisch. Vom Durchfahrtsverkehr ist kaum etwas zu hören; die Fenster wurden mit Dreifachglas ausgestattet.
Die Zahlen sind eindrücklich: Auf einer Nettowohnfläche von 1100 m² wurden 1600 m² Spanplatten verbaut, wurden kilometerweise Stromkabel und neue Wasserleitungen eingelegt. «Ich hatte den grossen Vorteil, dass wir nicht auf Ästhetik achten mussten», so Niklaus Sägesser.
Dennoch wirkt das Gebäude alles andere als wie eine Baracke. Sichtbalken, Einschnitte, Ecken und Fenster vermitteln Charme. Der Unternehmer selbst, der gerademal eine halbe Million Franken in das Projekt mit einem 5-Jahresvertrag gesteckt hat, konnte Tausende von Franken sparen, indem er für die Ausstattung Restmaterial einkaufte – oder sogar geschenkt erhielt. «Ich stellte nicht den Anspruch, jede Dusche mit demselben Design des Novilons ausstaffiert zu haben.»
Sein Projekt wird in der Gemeinde aufmerksam und mit Interesse verfolgt. Vielfach wurde ihm bereits angeboten, dass auf privater Basis mit Kindern gespielt und gebastelt, dass Schullektionen im Heim, auch für Erwachsene, erteilt würden.
«Es freut mich, dass in der Gemeinde Betroffene von sich aus zu Beteiligten werden», stellt er fest.
Einmal mehr hat er in seiner langjährigen, bewegten Unternehmer-Tätigkeit erfahren: «Man muss an eine Sache glauben, dann funktioniert es.»

Von Liselotte Jost-Zürcher