• Stetig gewachsen: Die Firmengebäude der Andermatt-Gruppe. · Bild: zvg

22.08.2018
Oberaargau

Die Bio-Pioniere jubilieren

Die Andermatt Biocontrol AG ist grösste Arbeitgeberin der Gemeinde Grossdietwil. Das Unternehmen ist in über 50 Ländern aktiv. Am 25. August feiert es seinen 30. Geburtstag mit einem Tag der offenen Tür.

Grossdietwil · Sie nannten ihn Würmlibauer. «Als meine Frau und ich Ende 1988 nach Grossdietwil kamen, liessen wir uns in einem Bauernhaus nieder und züchteten Würmer», blickt Martin Andermatt zurück. Das führte im Dorf zum einprägsamen Spitznamen. Lange ist’s her. Längst ist die Firma des einstigen Würmlibauers etabliert und grösster Arbeitgeber der Gemeinde. Im August feiert die Andermatt Biocontrol ihren 30. Geburtstag. Dazu lädt sie am 25. August zu einem Tag der offenen Tür ein. Grossdietwils Gemeindepräsident Dietmar Frei ist stolz auf die Jubilarin: «Mit ihren innovativen Produkten trägt die Firma den Namen unserer Gemeinde in die Welt hinaus.» Das sei bestes Standortmarketing.

Ungenutztes Wissen
Seinen Anfang nahm alles an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, der ETH. Dort dozierte ein Professor Delucchi über Pflanzenschutz. Er weigerte sich, chemische Möglichkeiten zu thematisieren. Das faszinierte den damaligen Studenten Martin Andermatt. Zu jener Zeit wurde die Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts durch chemische Mittel zum Thema. Die Forschung an europäischen Universitäten hatte viele Resultate zum biologischen Pflanzenschutz hervorgebracht. Bereits ein Laufmeter Literatur kam damals zur biologischen Bekämpfung der Obstmade zusammen. Dem zum Trotz: ein Markt existierte nicht. Konkret gab es in der Schweiz 50 Hektaren Bio-Obst, bei einer Gesamtfläche von 5000 Hektaren. Lediglich ein Prozent verlangte also nach entsprechenden Produkten, viel zu wenig für die Industrie. Für einen Multi sind 50 Hektaren nicht der Rede werde, für eine Einzelfirma sind sie ein schöner Markt. Martin und Isabel Andermatt – er Agronom, sie Tierärztin – sahen das Potenzial und machten sich an die Arbeit.

Startup-Romantik der 1980er-Jahre
295 Franken kostete das von den Andermatts entwickelte erste Mittel, mit dem eine Hektare Obstkultur ein Jahr lang gegen Wurmstichigkeit von Äpfeln behandelt werden konnte. Das war verhältnismässig teuer, doch Biobauern bezahlten den Preis gerne. Denn dadurch veränderte sich für sie die Welt: Bislang war ein Drittel bis die Hälfte ihrer Produktion wurmstichig. Nun stand ein Mittel zur Verfügung, mit dem sich ihr Ausschuss massiv verringern liess. «Die Nische war sehr klein, aber das Bedürfnis innerhalb der Nische war riesig», sagt Martin Andermatt. «Das erste Jahr verlief grossartig: Wir erzielten einen Umsatz von 59 000 Franken.» Einen Lohn zahlte sich das Paar noch nicht aus. Er arbeitete an seiner Doktorarbeit – zu einem verwandten Thema –, sie war in Erwartung des ersten Sohnes, hatte ihre Stelle bei einem Tierarzt gekündigt und produzierte zu Hause das Pflanzenschutzmittel.

Einen guten Riecher
Zum ersten Mal hatten die Andermatts einen guten Riecher bewiesen und einen mutigen und innovativen Weg eingeschlagen. Ihr feines Gespür für Trends sollte sich in den folgenden Jahren noch etliche Male bewähren. Ihren ersten Kassenschlager tauften sie Madex. So funktioniert er: Der Apfelwickler – ein Kleinschmetterling – ist verantwortlich für die Wurmstichigkeit. Seine Raupe befällt Äpfel. Indes hat auch sie natürliche Gegner – das Apfelwickler-Granulose-Virus. «Wir haben nichts anders getan, als Apfelwickler zu züchten und mit dem Virus zu infizieren», erklärt Martin Andermatt. In der Folge homogenisierte das Ehepaar die verendeten Tiere, filtrierte sie und formulierte das Produkt. In der Sprache von uns Laien: Die Tiere wurden vermanscht und in einem mehrstufigen Verfahren einer Flüssigkeit beigefügt. Von dieser reichen 100 Milliliter für die Behandlung einer Hektare Obstanlage. Damit bespritzte Apfelbäume sind mit dem Virus infiziert. Innerhalb zweier Tagen nach dem Schlüpfen verenden die befallenen Raupen. Etwas mehr als ein Jahr lang arbeiteten Martin und Isabel Andermatt zu zweit in Oberglatt. Die Zucht der Würmer sowie die Produktion von Madex erfolgte in ihrer Studentenwohnung. Startup-Romantik der 1980er-Jahre.

Wachstum von jährlich 15 Prozent
Von der Abflugschneise des Flughafens Zürich-Kloten ins Luzerner Hinterland: Am 31. Dezember 1988 zogen die Andermatts mit ihrem kurz zuvor gegründeten Unternehmen nach Grossdietwil. Bald engagierten sie die ersten Teilzeit-Mitarbeitenden, mehrheitlich aus dem Dorf. Ende 1989 bestand das Team bereits aus acht Personen. Lange war die bearbeitete Nische der Industrie zu gering. Die Multis belächelten die Idealisten. Heute nicht mehr. «Nach 20 Jahren erreichten wir die kritische Grösse, die chemische Industrie konnte uns nicht mehr ignorieren», sagt Martin Andermatt. Die Folge: Vor einigen Jahren gingen die grossen Firmen auf Einkaufstour in der Biocontrol-Industrie. «Auch bei uns haben alle angeklopft. Wir hätten ein gutes Geschäft machen können.»
In Grossdietwil bissen die Konzerne aber auf Granit. Heute entwickeln sie selber natürliche Pflanzenschutzmittel. Das sei nur bedingt eine Bedrohung für die angestammte Branche. «Sie können sich nur für grosse, hochrentable Projekte engagieren – wegen des Shareholder-Values.» Die Multis stürzen sich auf die Cash-Cows. Dabei sei es gerade die besondere Stärke des biologischen Pflanzenschutzes, mit selektiven Mitteln Nischen zu bearbeiten. Deswegen betrachtet Andermatt das Mitmischen der Grossen relativ gelassen. So wachsen die Grossdietwiler denn auch trotz der neuen Konkurrenten weiter. «Wir legen nach wie vor jährlich 15 Prozent zu. Das bedeutet alle fünf Jahre eine Verdopplung.»

Die internationalen Töchter
30 Jahre nach der Grundsteinlegung ist die Andermatt-Gruppe in mehr als 50 Ländern tätig und verfügt über eine breite Produktepalette. Längst nicht alle Artikel von Andermatt Biocontrol Schweiz stellt das Unternehmen selber her. Sie kommen aus der ganzen Welt, Andermatt agiert als Händler. 80 Prozent des in der Eidgenossenschaft erwirtschafteten Umsatzes macht die Firma mit Handelsprodukten. «In unserem Land haben wir das Ziel, ein Gesamtsortiment anzubieten.» Damit habe das Unternehmen entscheidend zum Wachstum des hiesigen Bio-Marktes beigetragen. Auf dem Weltmarkt hingegen verfolgt Andermatt einen komplett anderen Ansatz und verkauft fast ausschliesslich eigene Produkte.
Seit 2012 ist die Firmengruppe unter dem Dach einer Holding. Zum einen gehört dazu die Andermatt Biocontrol AG – mit Töchtern in Deutschland, Brasilien, Kanada, USA, Südafrika, England und Frankreich sowie Beteiligungen in Polen, Deutschland und Österreich. Ein weiteres Mitglied ist Andermatt Biogarten. Es liefert Produkte für Heimgärtner, beispielsweise Fadenwürmer gegen Dickmaulrüssler. Die Andermatt Biovet wiederum ist auf Produkte der Tiermedizin spezialisiert. Die Andermatt Service AG verwaltet die Liegenschaften, ist für die Buchhaltung und das Personalwesen verantwortlich. Die Entomos AG schliesslich stellt Mittel zur Wundheilung her und ist Schweizer Pionierin in der Produktion von Lebensmittelinsekten, seit diesem Jahr in Bio-Qualität.
Grossdietwils Gemeindepräsident Dietmar Frei hat schon Insekten gegessen – bei der Firma Andermatt versteht sich. «Im ersten Moment ist der Gedanke schon etwas eigenartig», sagt er. Doch die aufgetischten Mehlwürmer hätten sich angefühlt wie Chips. Und eines weiss Frei: «Man muss Neues wagen.» Das habe das Beispiel der Andermatt Biocontrol AG wiederholt eindrücklich gezeigt.     

Gut zu wissen
Tag der offenen Tür: Samstag, 25. August, 9 bis 16 Uhr, Stahlermatten 6, Grossdietwil.

Von David Koller