• Sie machten sich im Zwinglihaus Gedanken über die Zukunft der Kirche (von links): Andreas M. Walker, Daniel Winnewisser und der gebürtige Huttwiler Michael Hermann. · Bild: Hans Mathys

17.11.2017
Langenthal

Hat die Kirche eine Zukunft?

Die Schweiz weist in Westeuropa statistisch die höchste Quote an Gläubigen auf. Die Zahl der Mitglieder in den Landeskirchen sinkt jedoch krass. Weshalb? Im Zwinglihaus in Langenthal gingen der gebürtige Huttwiler Politgeograf Michael Hermann, ein Zukunftsforscher und ein Pfarrer dieser Frage nach – mit Fakten und Einschätzungen.

Vor 500 Jahren hat die Reformation Kirche und Gesellschaft durchgeschüttelt. Was spüren wir heute noch von dieser Eruption – wann schüttelt es das nächste Mal? Im Rahmen von «500 Jahre Reformation» gingen im Langenthaler Zwinglihaus drei Experten diesen Fragen auf den Grund: Pfarrer Daniel Winnewisser, der 46-jährige Politgeograf Michael Hermann, der in Huttwil aufgewachsen ist, in Langenthal den Gymer besuchte und an der Uni Zürich unterrichtet sowie der 52-jährige Basler Zukunftsforscher Andreas M. Walker.
Martin Luther habe das Evangelium ins Zentrum gestellt, die Bibel ins Deutsche übersetzt und dafür gesorgt, dass die Bildung Bestandteil auch bei niedrigen sozialen Schichten wurde, so Reto Steiner, Kirchgemeindepräsident der reformierten Kirche Langenthal, bei der Begrüssung der knapp 60 Interessierten. «Luther war dabei nicht allein. Er hat aber einen wesentlichen Beitrag geleistet», hielt Steiner fest, der auch gleich ein Lob für seine «wundervolle Einführung» erhielt – vom freischaffenden Autor Matthias von Wartburg, der jetzt die Moderation von «Hat die Kirche eine Zukunft?» übernahm. Er liess Winnewisser in die Vergangenheit blicken, Hermann die Gegenwart durchleuchten und Walker einen Blick in die Zukunft wagen.

Die Reformation ist nicht am Ende
«In 12 Minuten die Geschichte des Christentums in Erinnerung rufen, ist schwierig. Ich versuche es trotzdem», begann Winnewisser sein Referat. Er sorgte mit dieser Aussage gleich für eine lockere Stimmung. «Als Theologe frage ich mich, wer dieser Jesus von Nazareth gewesen ist, welche Bedeutung er hatte und welche er heute noch hat», so der Pfarrer, für den Jesus «eine faszinierende Figur» ist und bleibt. Daniel Winnewisser: «Die Reformation ist nach 500 Jahren keineswegs am Ende, aber sie bedarf womöglich einer Reformation.»

Glaube an eine höhere Macht
Bei der Volkszählung 1970 habe es in der Schweiz erstmals mehr Katholiken als Reformierte gegeben, verglich Politgeograf Hermann die zwei Landeskirchen. Gemäss neusten Ermittlungen liegt der Anteil der Reformierten heute schweizweit bei 25 Prozent. Der Rückgang bei den Katholiken sei weniger stark gewesen. Heute seien 38 Prozent katholisch. Bei jener Volkszählung vor 47 Jahren habe es hierzulande andere Religionen praktisch noch gar nicht gegeben. Der Anteil der Nicht-Gläubigen in der Schweiz liege heute bei 20 Prozent, so Hermann. Der gebürtige Huttwiler verwies auf den Zeitgeist: Reformierte würden vielfach nicht an einen persönlichen Gott glauben, sondern an eine höhere Macht oder an andere Möglichkeiten – Stichwort Spiritualität.

Religion am Schluss der Rangliste
«Wie messe ich die Zukunftsfähigkeit einer Kirche?» Mit dieser Frage ging der Basler Zukunftsforscher Andreas M. Walker auf Spurensuche nach Indikatoren. Er verwies darauf, dass die Religionszugehörigkeit in der Schweiz 1910 praktisch bei 100 Prozent war. Gemäss Umfrage hätten die grössten Hoffnungen bei den Schweizern für 2017 primär bei «persönlicher Gesundheit» und bei «glücklicher Ehe, Familie und Partnerschaft» gelegen. Auf Rang 15 dieser Umfrage hat es «mehr Sex und romantische Erlebnisse» geschafft – vor «mehr Geld». Auf Rang 17 ganz zuletzt: «Religiöse und spirituelle Erfahrungen». Die zwei Aspekte hier: Spitalseelsorge und Friedhof. «Also ist Religion fürs Sterben und nicht fürs Leben», folgerte Walker mit bewusst provokativem Unterton.
Bei den Perspektiven 2030 würden «Kirche und Religion» nicht mehr erwähnt. «Wir haben die Balance verloren», hielt Walker fest und erinnerte an die Bibel (1. Korinther, 13): «Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grösste unter ihnen.» Walker kam aufs Alter zu sprechen, das zu Zeiten von Jeremias Gotthelf bei 40 Jahren gelegen habe. «Im Vergleich zu damals erreichen wir heute ein biblisches Alter», betonte er. Die Hälfte der Männer sterbe älter als mit 79 Jahren, bei den Frauen läge dieser Wert bei 84. Im Jahr 2030 sei ein Drittel der Bevölkerung in der Schweiz über 60-jährig. Schon jetzt sei der Anteil der über 60-jährigen Senioren  grösser als jener der unter 20-jährigen Junioren. Wegen dieses Älterwerdens, der Verdoppelung des Lebens, stelle sich die Frage, was wir mit dem 2. Leben machen. Grösste Angst sei, dass die AHV-Rente nicht reiche.

Wird Big Data zum Cyber Gott?
Heute würden in der Schweiz 2,6 Millionen Katholiken und 1,8 Millionen Reformierte (gezählt sind die über 15-Jährigen) leben, sagte Walker. Nigeria zähle über 90 Millionen Christen, Russland 50 bis 100 Millionen, China 85 bis 120 Millionen und Lateinamerika 100 Millionen Pfingstler. Walker ist der Meinung, dass die Menschen zwar weiterhin an Jesus Christus glauben, dafür aber vielleicht keine Kirche mehr brauchen würden. Er schloss mit einer Frage: «Werden künstliche Intelligenz und Big Data zum virtuellen Cyber Gott, zu dem wir beten und der weiss, was gut für uns ist?» Das Fazit von Pfarrer Daniel Winnewisser nach dem zweistündigen Anlass mit spannenden Referaten und abschliessender Diskussionsrunde: «Es gibt in der differenzierten und individualisierten Gesellschaft heutiger Prägung keinen ‹Königsweg›, aber viele Wege, die sich teilweise blockieren, ja sogar ausschliessen.»