• Was für eine Leistung: Jamal Nazari gewinnt am Grand-Prix von Bern die Junioren-Kategorie und läuft die «10 schönsten Meilen der Welt» deutlich unter einer Stunde. · Bild: alphafoto.com

09.06.2017
Sport

Integration via Fussball und Laufen

Jamal Nazari, Flüchtling aus Afghanistan – «Es gefällt mir hier. Ich muss nicht dauernd Angst haben, dass eine Bombe einschlägt.» Die Worte von Jamal ­Nazari (17) berühren. Seine Geschichte ist traurig – und schön zugleich. Sie zeigt, dass Integration über den Sport ­geschehen kann. Nazari spielt beim SC Wyssachen Fussball und ist ein ausgezeichneter Laufsportler.

 

Fussball/Laufsport · Am 4. Dezember 2015 ist Jamal Nazari als Flüchtling in die Schweiz gekommen. «Wir wurden ständig von Taliban angegriffen. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich fliehe, um ein besseres Leben zu haben», berichtet der 17-Jährige. Nazari erlebte in Afghanistan unter den Taliban eine Schreckensherrschaft. «Ich musste mitansehen, wie 400 Leute durch eine Bombe ihr Leben verloren.» Der Afghane wird nachdenklich, um dann sichtlich gerührt den nächsten Schocker nachzuschieben: «Ich sah, wie Leute enthauptet wurden.» Mitunter diese Erlebnisse sorgten dafür, dass Jamal Nazari die Flucht antrat. «Es ist schwierig. Mein Bruder lebt in Belp. Doch meine Eltern und meine Schwester sind nach wie vor in Afghanistan», sprudelt es in bereits recht flottem Deutsch aus Nazari heraus. «Am schlimmsten ist für mich, dass ich keine Ahnung habe, ob es meinen Eltern gut geht. Ich habe keinen Kontakt zu ihnen.»

In Schwarzenbach enstand die Bindung zum SC Wyssachen
Im Besitz des F-Ausweises (Bewilligung für vorläufig aufgenommene Ausländer) lebte Jamal Nazari seit seiner Ankunft in Zürich (drei Monate), Schwarzenbach (sechs Monate), Beatenberg und nun in Bärau in einem speziell auf die Bedürfnisse der minderjährigen Asylsuchenden ausgerichteten Wohnheim der Zentrum Bäregg GmbH. Nach einer ziemlichen Odyssee direkt nach seiner Ankunft in der Schweiz kam Nazari ins Ankunftszentrum für unbegleitete jugendliche Asylsuchende in Schwarzenbach. Und auf dem Campus Perspektiven in Schwarzenbach bei Huttwil knüpfte der Afghane über den Sport den Kontakt. Jamal Nazari sah den im Campus beheimateten Fussballclub Wyssachen beim Training. Über Trainer Erwin Aeschlimann enstand eine Verbindung, die rasch intensiviert wurde. «Erwin hat mir soviel geholfen. Ich bin ihm sehr dankbar», sagt Nazari. Innert kürzester Zeit ist der Afghane ein Fixum in der ersten Fussballmannschaft Wyssachens geworden. Trainer «Winu» Aeschlimann kümmert sich mit der  für ihn typischen Leidenschaft darum, dass Nazari bei allen Trainings und Meisterschaftspartien dabei sein kann, hilft ihm ausserdem weit über den Fussball hinaus. «Er ist wie ein Vater für mich», lobt Nazari dementsprechend dankbar. Der Wyssacher Teamchef kontert: «Ich habe viel von Jamal gelernt.  Er hat mir in vielen Sachen die Augen geöffnet. So wurde mir wieder einmal bewusst, dass wir Schweizer alles haben – und jeweils auf hohem Niveau jammern.»

Von Bärau in jedes Fussballtraining
«Sobald ich im Verein Fussball spielen kann, fühle ich mich geborgen. Die Mannschaft ist für mich wie eine Familie», schildert der Mittelfeldspieler mit der Nummer 12. Mit Yusef Jafari Kazem spielt sogar ein zweiter Flüchtling im Wyssacher Team mit. Auch nach dem Wohnsitzwechsel nach Bärau hält die Liaison. Nazari reist mit dem Zug in jedes SCW-Training. «Ich helfe, wo ich kann. Ich verlange von Jamal aber auch, dass er sich integriert. Er muss unsere Sprache sprechen, unsere Regeln befolgen», erklärt Erwin Aeschlimann. «Asylsuchende, welche gewillt sind, sich den hiesigen Gewohnheiten anzupassen, haben eine Daseinsberechtigung. Jamal gehört definitiv dazu. Ich setze mich für ihn ein.»

In der Schweiz bleiben
Jamal Nazari ist gewillt, sich eine Existenz aufzubauen. «Mein Herz schlägt für die Schweiz. Ich möchte hier bleiben.» Was ihm ganz wichtig ist: «Ich möchte nicht auf Kosten anderer leben. So lange ich aber Schüler bin, geht dies nicht anders. Ich wäre aber gewillt, sofort einer Arbeit nachzugehen. Gartenarbeit oder irgend eine handwerkliche Tätigkeit wären ideal. Ich arbeite gerne, bin auch gewillt, zu lernen», erklärt Nazari. Weiter ist es sein Ziel, in Huttwil oder der nahen Umgebung eine Wohnung zu finden. «Damit ich näher beim Fussballverein und meinen Kollegen bin.»

Nazari der Wunderläufer
Die zweite grosse Passion von Jamal Nazari neben dem Fussball ist das Laufen. «Ich trainiere pro Woche zweimal Fussball und viermal Laufen.» Vorkenntnisse hat er keine. «Ich bin in Afghanistan nie gelaufen. Dort ist dies nicht möglich. In der Schweiz habe ich es schätzen gelernt. Es ist wunderbar, einfach durch die wunderschöne Gegend laufen zu können – ohne die dauerhafte Angst, dass jeden Moment neben dir eine Bombe explodieren könnte.» Nazaris Worte berühren – stimmen einmal mehr nachdenklich. «Ich laufe auch, um den Kopf zu lüften. Ich kann vergessen, wenn ich laufe.» Und Nazari ist ein Naturtalent. Er läuft blitzschnell, oft und weit. «Ich gehe raus und laufe im Schnitt 15 bis 20 Kilometer. Ich schaue, dass ich diese in hohem Tempo durchziehen kann», erklärt Nazari. Dass ihm das Laufen nichts ausmacht, zeigt eine Anekdote, die gleichzeitig auch ein Beleg dafür ist, dass Jamal Nazari in der Schweiz – wortwörtlich – Fuss fassen will. In Wolhusen bemerkte Nazari, dass er das Zugsticket verloren hatte. Aus Angst, bei einer Kontrolle erwischt und dann ausgeschafft zu werden, stieg er kurzerhand aus dem Zug und rannte quer über alle Hügel heim an seinen Wohnsitz in Bärau …

Der Exploit am Grand-Prix von Bern
Zu was er im Laufen sonst noch fähig ist, zeigte er im Mai am Grand-Prix von Bern. Bei seinem zweiten Start nach 2016 über die 16 Kilometer rockte Nazari die Gassen der Hauptstadt. In 58:33 Minuten knackte er die Stunden-Schallmauer deutlich und holte sich den GP-Sieg bei den Junioren. Von 9955 Läufern belegte er inmitten Schweizer Laufsport-Topleuten den 59. Rang. Dies als Laufsport-Greenhorn und in abgelaufenen und löchrigen Turnschuhen. «Ich besitze nur dieses eine Paar.» Umso erstaunlicher ist die Leistung. «Ich möchte in Zukunft mehr an Laufsportwettkämpfen starten und noch härter dafür trainieren», erklärt Jamal Nazari. Sobald er in der Nähe wohnt, kann er es sich auch vorstellen, sich einem regionalen Sportverein anzuschliessen, der dem Lauf- sport frönt. «Fussball und Laufen sind einfach meine grossen Leidenschaften.» Und genau über diese beiden Sportarten dürfte Jamal Nazari auf dem besten Weg sein, sich zu integrieren.  

Von Stefan Leuenberger