• SGM-Chefarzt Albrecht Seiler (links) und Referent Michael Rufer bei der Einleitung des Vortrages «Zwangsstörungen». · Bild: Leroy Ryser

27.01.2017
Langenthal

Nur Konfrontation hilft gegen Zwänge

Beim neusten Vortrag in der SGM Klinik behandelte Referent Michael Rufer das Thema Zwangsstörungen. Er ging dabei einerseits auf die Formen, aber auch auf Therapiemöglichkeiten und Chancen der psychischen Krankheit ein. Wer davon betroffen ist, so wurde bald klar, kommt nur mit einer mühsamen Konfrontation zu mehr Lebensqualität.

Auf dem Bild inmitten der Leinwand wird ein Sandkasten aus der Vogelperspektive gezeigt. Ein Sandkasten, wie es ihn kaum gibt. Alles ist aufgeräumt, alle Spielsachen liegen der Grösse und Form nach sortiert da. Alles in einem rechten Winkel und schön hingelegt. Ja sogar der Sand scheint wie gewalzt. Es herrscht die perfekte Ordnung. Rechts unten am Bildrand sitzt ein kleines Kind, verschränkt die Arme um seine hochgezogenen Beine. Es scheint einsam und isoliert. «Ich habe drei Kinder zu Hause. Manchmal hätte ich es gerne ein bisschen mehr auf diese Art», sagt Michael Rufer und eröffnet seinen Vortrag in der Langenthaler Klinik SGM nach einem kurzen Einstieg mit einem Lacher. Der Grund für die Ordnung ist derweil aber sehr ernst. «Bei Zwangsstörungen», sagte Rufer, «bewegt uns unser Gefühl etwas zu tun, obwohl unser Kopf weiss, dass es unnötig oder gar absurd ist. Und dennoch tun wir es.» Das könne beispielsweise ein Ordnungs- oder Waschzwang sein. Eine ebenfalls bekannte Zwangsstörung ist das zwanghafte Sammeln, besser bekannt unter dem Namen «Messi». Ebenso gibt es aber auch Gedankenzwänge. «Im Kopf entstehen Bilder, beispielsweise von Bekannten, welche die Betroffenen als falsch oder tragisch erachten. Ich könnte diesem Menschen etwas antun – zum Beispiel. Dieses Bild wollen solche Menschen unbedingt richtigstellen, weil sie sich sagen: Solche Bilder darf man gar nicht erst haben.» Bis der Fehler in den Gedanken korrigiert sei, würden die meisten in derselben Position verharren. Bei einer Patientin Rufers ging das so weit, dass sie stundenlang unter der Dusche blieb und als sie von ihrer Schwester gefunden wurde, reagierte sie auf deren Hilfeversuch gewaltsam. «Das ist extrem belastend und kann, wenn es noch weitergeht, auch körperliche Symptome mit sich bringen», erklärt Rufer. Ganz allgemein würden Zwangsstörungen oftmals Begleiterscheinungen haben. Gerade Depressionen seien bei vielen Patienten ebenso zu erkennen. Dazu kommen meist Verzweiflung, Erschöpfung oder sogar Arbeitsplatzverlust als Folgeerscheinung.

Konfrontation ist nötig
Die gute Nachricht für Patienten mit Zwangsstörungen: Die Therapie zeigt in den meisten Fällen Wirkung. Im Falle von Rufers Patienten mit zwanghaften Gedanken konnten die Störungen um 50 Prozent reduziert werden. Damit sind ein normales Leben und das Nachgehen einer normalen Arbeit möglich. Die Therapie ist für viele aber nicht einfach, weil kein Weg an einer Konfrontation mit dem Problem sowie der Lebensgeschichte vorbeiführt. «Für die Patienten ist das sehr belastend», erklärte Rufer. Wird die Krankheit aber nicht behandelt, so verläuft sie chronisch. Zudem wird die Lebensqualität der Betroffenen leiden. So werden beispielsweise jene mit einhergehenden Keimphobien das Umfeld systematisch ausschliessen. So wird niemand zu sich nach Hause eingeladen, sodass gar nicht erst Schmutz entstehen kann. Die Personen nabeln sich von ihrem Umfeld ab.
Zwangsstörungen haben derweil eine gewisse Ähnlichkeit zu anderen Krankheiten, sind aber nicht als Zwang anzusehen. «Zuerst einmal: Wer den Zwang nicht als lästig empfindet, ist nicht zwangsgestört. Wer findet, dass beispielsweise Wiederholungen gut sind, der hat ein anderes Problem. Zwangsgedanken sind lästig und lösen Angst, Unbehagen oder Anspannung aus», erklärte Rufer bei seinem Vortrag weiter. Ebenfalls nur verwandt seien Störungen wie Hypochondrie (Angst vor Krankheiten), Kaufsucht oder Esstörungen.

Dem Zwang nicht mehr nachgeben
Zwangsstörungen beginnen derweil meistens früh im Kindesalter und sind im Alter zwischen 12 und 14 sowie im Alter zwischen 20 und 22 Jahren am aktivsten. «Wer älter ist und noch keine Zwangsstörungen hat, der wird sie höchstwahrscheinlich auch nicht mehr bekommen», sagte Rufer den Anwesenden. Für alle anderen empfahl er eine Psychotherapie ohne Medikation. «Werden nur Tabletten eingenommen, so kehren die Störungen zurück, wenn diese abgesetzt werden», so der aus Berlin stammende Doktor. Vollkommen befreit kann man von den Zwangsstörungen sowieso nicht werden, man lernt lediglich damit umzugehen. «Wenn wir dem Zwang nachgeben, dann kommt er wieder», sagte Rufer und fügte ein Beispiel an: «Ich denke, ich muss mich waschen, um mich von Keimen zu befreien. Wenn ich mich wasche, habe ich das Gefühl, dass ich deswegen nicht krank geworden bin.» Erst die konträre Handlung kehre das Verhalten der Patienten um. Der Erfolg zeige, dass die Zwangshandlung nicht nötig ist. «Ich wurde nicht krank, also schaff ich es vielleicht auch beim nächsten Mal, mich nicht zu waschen», formulierte Rufer weiter. Man müsse es dem Zwang so ungemütlich wie möglich machen, andererseits erhalte er zu viel Macht. «Die Therapie setzt damit bei der Reaktion auf einen Gedanken an. Die Gedanken kann ich nicht verhindern. Ich kann nur beeinflussen, wie ich darauf reagiere», so Rufer weiter. So würden Menschen lernen, mit dieser Störung umzugehen und sie in Schach zu halten.

Spleens sind keine Störungen
Zum Schluss konnte Rufer bei der von SGM-Chefarzt Albrecht Seiler geführten Fragerunde einzelne Zuhörer noch beruhigen. Ticks sind keine Zwangsstörungen. Sogenannte mehr oder weniger liebenswerte Spleens, wie beispielsweise das Auto mehrfach mit der Fernbedienung schliessen, nur um sicher zu gehen, dass es geschlossen ist, seien noch keine Zwangsstörung. «Eine Zwangshandlung ist es nur, wenn man erstens  ohne die Handlung nicht fortfahren kann und zweitens, wenn die Handlung einen im Leben einschränkt oder ängstigt und die betroffenen Personen in der Folge darunter leiden.» Dasselbe gelte für Zwangsgedanken. Böse Gedanken hätten die meisten Menschen, viele würden diese aber nicht ernst nehmen oder einfach ignorieren. «Zwangsgedanken machen einem Druck. Wir müssen etwas tun, um die Spannung in uns zu lösen», erklärte Rufer zum Schluss. Letztlich sei es aber egal ob Zwangshandlung oder Zwangsgedanke – um damit fertig zu werden, braucht es eine Therapie. Betroffene dürfen aber durchaus hoffen, weil die zwar schwierig therapierbare Krankheit dennoch bekämpft werden kann. Von alleine verschwinden die Störungen aber nicht. Wer seine Lebensqualität zurückhaben will, der muss sich mit dem Problem auseinandersetzen und die Konfrontation eingehen.

Von Leroy Ryser