• Ihr Beruf ist ihre Passion: Annemarie Wild liebt die Arbeit in ihrem Schneider-Atelier im Huttwiler Städtli. · Bild: Elsbeth Anliker

18.10.2017
Huttwil

Wo Masskleidung mit Chic gefertigt wird

Die gehobene Schneiderei wird immer seltener. Annemarie Wild aus Huttwil beherrscht dieses Handwerk seit Jahren. Sie fertigt massgeschneiderte Einzelstücke aus feinsten Stoffen und ändert Liebgewordenes. Grund genug, die Schneiderin in ihrem Atelier zu besuchen.

Tageslicht flutet in das Schneider-Atelier an der Bahnhofstrasse 30 in Huttwil. Der schöne Raum wird dominiert von den leuchtenden Farben und verschiedenen Mustern der Stoffvielfalt. «Meiner Kundschaft fällt es oftmals nicht leicht, aus der Fülle dieser prächtigen Stoffe eine Wahl zu treffen», erzählt Annemarie Wild mit leuchtenden Augen. In der hellen Sitzecke, ausgestattet mit hübschen, samtbezogenen Biedermeiersesseln, nimmt die Huttwiler Schneiderin gerne Kundenwünsche entgegen. 

 

Vom Puppenkleid zur Haute Couture

«Ich wurde in die Welt der Stoffe hineingeboren», erzählt die in Niederbipp aufgewachsene Annemarie Wild. Die ganze Familie habe mit dem Schneidern zu tun gehabt. Ihre Mutter, zum Beispiel, sei Näherin in Heimarbeit gewesen und der Onkel ein hervorragender Schneidermeister. Sie erinnert sich lächelnd, wie sie als Mädchen sämtliche Kleider für ihre Puppe selber entworfen und dann auf der Handkurbelnähmaschine genäht habe. «Ich wollte immer Damenschneiderin werden», sagt sie. Nach dieser dreijährigen Lehrzeit sammelte Annemarie Wild erste Erfahrungen «in einem ­Änderungsatelier für anspruchsvolle Kundschaft» in der Stadt Bern. Gerne erinnert sie sich an die Arbeit in der Kleiderfabrik in Aarwangen, wo sie Musterkollektionen anfertigte und Lernende ausbildete.

 

Ein Glücksfall

Da die Fabrikarbeit wenig Zukunft versprach, machte sich Annemarie Wild selbstständig. Die junge Mutter von Zwillingen begann an ihrem dama­ligen Wohnort, in Schwarzhäusern, für eine publikumsreiche Kundschaft zu schneidern. Bis eine bekannte Zürcher Modedesignerin die talentierte Schneiderin im kleinen Dorf entdeckte. «Das war ein Glücksfall», sagt sie froh. Nach individuellen Entwürfen dieser Modedesignerin schneiderte Annemarie Wild während Jahrzehnten Haute Couture-Kleider. Im Luxushotel Dolder Grand, hoch über Zürich, präsentierten Models an grossen, glamourösen Modenschauen die von ihr gefertigten Kollektionen. «Sehr gerne wurden diese luxuriösen Einzelstücke von den stilverwöhnten Kunden getragen», erzählt sie und erinnert sich: «War das eine aufregende, schöne und lehrreiche Zeit.» 

 

Atelier-Besuch im Städtli

Heute führt Annemarie Wild leidenschaftlich und mit künstlerischem Flair ihr Schneider-Atelier im Huttwiler Städtli. Kundschaft von nah und fern, die Freude an besonderen Geweben, Farben und Schnitten hat, geht bei ihr ein und aus. «Ich verstehe meine Kundinnen und weiss, was sie sich wünschen», sagt sie. Dies fängt mit einer Idee an, geht über den Entwurf und die präzise Ausarbeitung bis hin zum fertigen Unikat. «Die Masskleidung überspielt Problemzonen», erklärt die Schneiderin, «das aber verlangt Respekt, Einfühlungsvermögen, Vertrauen und Ehrlichkeit.» Die Kundin findet kompetente Beratung, die ihre Vorzüge besser zur Geltung bringen. Denn genau deshalb lässt sie sich Masskleidung schneidern und freut sich an Passform und Individualität. 

 

Fast alles ist möglich

Annemarie Wild verbindet wunderbar handwerkliches Geschick und Liebe zum Detail. «Ich kann fast alles ermöglichen», sagt die Perfektionistin, die beharrlich dran bleibt, bis wirklich ­alles perfekt ist – durchgehende Li­-nien zum Beispiel, präzise Nähte oder 

exakt eingesetzte Ärmel. Die Huttwiler Schneiderin kauft viele ihrer kostbaren Stoffe in Paris ein. «Meine Stoffe leben, schmücken und erfreuen aus sich heraus», begeistert sie sich. In ihrem Atelier findet man auch kleine auserlesene Accessoires wie modische Ledergürtel, selbst gefertigte Taschen und Modeschmuck.

 

Kundinnen glücklich machen 

«Mein Handwerk ist meine Welt. Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes lieber und besser zu tun», sagt Annemarie Wild glücklich. Beruf und Freizeit gehen bei ihr fliessend ineinander über. «Da bleibt wenig Zeit für den Ausgleich durch Natur und Lektüre», erzählt sie. Sicherlich ist das auch ein Grund, weshalb Massschneiderei immer seltener wird. Für die passionierte Schneiderin aber stimmt es so – und das spürt die Kundin. Wenn diese zmit einem zufriedenen Lächeln das Atelier an der Bahnhofstrasse verlässt, «ist mein Ziel erreicht – und das ist mein schönster Lohn.» 

Von Elsbeth Anliker