04.02.2021
Luzerner Hinterland

Der lange Weg zum Frauenstimmrecht

50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz: Das Thema erzielt im Gespräch mit Ausländern immer wieder Heiterkeitserfolge. Ausgerechnet die zweitälteste Demokratie der Welt gewährte als eines der letzten Länder weltweit Frauen ihre vollen Bürgerrechte. Sogar Dschibuti und Kiribati waren früher – und die meisten islamischen Staaten.

Frauenstimmrecht · Die frühe Demokratisierung 1848 war paradoxerweise gerade der Hauptgrund für die späte Einführung des Frauenstimmrechts, ist in der einschlägigen Fachliteratur nachzulesen. Denn während in anderen Staaten das Parlament dieses Recht einführte, konnte das in der Schweiz nur durch eine Verfassungsänderung geschehen und diese erforderte zwingend einen Volksentscheid. Und das Volk ist nun einmal im Durchschnitt weniger aufgeklärt als die politische Elite.
Ausserdem hing der männliche Souverän an seinen Privilegien. «Die Konstruktion der republikanischen Männlichkeit – und damit verbunden der Ausschluss der Frauen aus der Politik – sei in der Schweiz besonders ausgeprägt gewesen, weil die Ideologie eng verflochten mit den männerbündlerischen Gründungsmythen der Eidgenossenschaft gewesen sei, erläutert Werner Seitz in seinem Buch «Auf die Wartebank geschoben». Ein einig Volk von Brüdern halt.
Im Zuge einer Totalrevision der Verfassung wäre die Einführung des Frauenstimmrechts relativ sanft, ohne viel Diskussion, vonstatten gegangen. Aber die erste Totalrevision kam 1874 zu früh und die zweite erfolgte erst wieder 1999. Als kontraproduktiv erwies sich laut Seitz auch die Einbindung der Frauen ins öffentliche Leben: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Frauenvereine gegründet, die im Armenwesen, der Mädchenbildung und der Krankenpflege tätig waren. Diese meist bürgerlichen Frauen verfolgten eine sogenannt dualistische Strategie: Die dienende Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter wurde ins Öffentliche erweitert und die politische Unmündigkeit der Frau auf diese Weise zementiert.

Zubringerdienst für Paschas
Die politische Milizarbeit im Sozialbereich hatte aber laut Seitz auch ihr Gutes: Frauen erhielten Einblick in die Verwaltungsabläufe und in das Gesetzgebungsverfahren und konnten sich so politische Kompetenzen aneignen. Das zahlte sich aus: Bei den ersten Wahlen nach der Annahme des Frauenstimmrechts standen qualifizierte Frauen parat, zehn Gewählte plus eine «Nachrückerin», immerhin fünfeinhalb Prozent, waren weiblichen Geschlechts. Und der Anteil wuchs kontinuierlich – jedenfalls im Nationalrat. Seit den letzten Wahlen 2019 beträgt der Frauenanteil dort 42 Prozent. Im Ständerat, den kantonalen Regierungen und natürlich dem Bundesrat dauerte alles etwas länger. Elisabeth Kopp war 13 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts die erste gewählte Bundesrätin.

Die Chronologie
1893 forderte der Schweizerische Arbeiterinnenverband das Frauenstimmrecht.
1904 forderte die Sozialdemokratische Partei (SPS) im neuen Parteiprogramm auch das Frauenstimmrecht.
1909 Verschiedene Stimmrechtsvereine schliessen sich zum Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht (SVF) zusammen.
1912–21 wird das kantonale Frauenstimmrecht in St. Gallen, Genf, Neuenburg, Basel-Stadt, Genf, Zürich und Glarus abgelehnt. Bis 1971 wird 31 Mal in den Kantonen über das kantonale Frauenstimmrecht abgestimmt, 22 Mal überwiegt das Nein.
1918 Das Frauenstimmrecht gehört zu den Hauptforderungen der Gewerkschaften beim Generalstreik.
1920–1929 Gegnerinnen des Frauenstimmrechts aus dem Bürgertum formieren sich und werben: «Die Frau gehört ins Haus!»
1929 Eine Petition des SVF, verschiedener Frauenorganisationen, der SPS und der Gewerkschaften mit 249 237 Unterschriften (170 397 von Frauen und 78 840 von Männern) fordert das Frauenstimmrecht auf Bundesebene. Sie zeitigt keine sichtbaren Folgen. Obwohl die Männerstimmen für eine Volksinitiative reichen würden, wird auf deren Eingabe verzichtet.
1929–39 In wirtschaftlich schweren Zeiten werden Frauen an den Herd geschickt.
1939–45 Frauen übernehmen Aufgaben der Männer, die im Aktivdienst sind.
1951 Ein Bericht des Bundesrates bezeichnet eine eidgenössische Vorlage für das Frauenstimmrecht angesichts der vielen ablehnenden kantonalen Volksabstimmungen als verfrüht.
1957 Der Bundesrat plant die Verstärkung des Zivilschutzes mittels eines Zivilschutzobligatoriums auch für Frauen. Ohne Rechte keine Pflichten, sagen die Frauenverbände! Um das Zivilschutzprojekt zu retten, legt der Bundesrat einen Entwurf zur Einführung des Frauenstimmrechts vor.
1958 Die Gegner des Frauenstimmrechts stimmen der Vorlage im Parlament aus taktischen Überlegungen zu: Sie hoffen, dass ein negativer Volksentscheid das Ansinnen auf unabsehbare Zeit eliminiert.
1959 Die Sozialdemokraten (SP), die Gewerkschaften, der Landesring der Unabhängigen (LdU) und die Partei der Arbeit (PdA) geben die Ja-Parole aus. Die FDP und die Katholisch-Konservative Volkspartei (heute: CVP) beschliessen Stimmfreigabe, die Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, ab 1971 SVP) sowie der Gemeinnützige Frauenverein und die Landfrauen beschliessen die Nein-Parole.
1959 Am 1. Februar wird das Frauenstimmrecht in der eidgenössischen Volksabstimmung mit 67 Prozent Nein bei einer Stimmbeteiligung von 67 Prozent wuchtig versenkt. In Innerrhoden liegt der Nein-Stimmenanteil bei 95 Prozent. Waadt, Genf und Neuenburg stimmen dafür.
1959 Gründung des Bundes der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht.
1959 Waadt gewährt als erster Kanton den Frauen das Stimmrecht auf kantonaler Ebene, im selben Jahr folgt Neuenburg, 1960 Genf.
1966 Annahme des Frauenstimmrechts in kantonalen und Gemeinde-Angelegenheiten im Kanton Basel-Stadt als erstem Deutschschweizer Kanton, 1968 folgt Basel-Land, 1969 Tessin, 1970 Zürich, Wallis und Luzern.
1962–1968 Der Bundesrat will 1962 dem Europarat beitreten und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen, unter Vorbehalt des Frauenstimmrechts. Die Frauenverbände protestieren. Der Bundesrat will die Lage mit einer Volksabstimmung sondieren. Diesmal halten sich die Gegner zurück: Man geht davon aus, dass das Frauenstimmrecht irgendwann sowieso kommt und will die künftige Hälfte des Stimmvolks nicht der SP überlassen.
1971 Am 7. Februar nehmen die Stimmbürger das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen mit 66 Prozent Ja- gegenüber 34 Prozent Nein-Stimmen an. UR, SZ, OW, GL, SG, TG, AR und AI lehnen ab.
1971 Bei den Nationalratswahlen vom 31. Oktober werden zehn Frauen gewählt, eine weitere rückt für einen in den Ständerat gewählten Mann nach, der Frauenanteil beträgt 5,5 Prozent. 2019 sind es 42 Prozent.
1989 genehmigt die Ausserrhodener Landsgemeinde das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene.
1990 verwirft die Innerrhodener Landsgemeinde zum dritten Mal das kantonale Frauenstimmrecht. Doch das Bundesgericht heisst zwei staatsrechtliche Beschwerden gut und zwingt den Halbkanton zu seinem Glück.

Von Irene Widmer/Keystone-SDA