100 Jahre zwischen Handwerk und modernem Textilunternehmen
1919 eröffnete Johann Lanz an der Rohrbacher Käsereistrasse, unmittelbar neben der damaligen Käserei, seine Sattlerei, damals hauptsächlich für Pferdegeschirr. Es war der Anfang der international tätigen Lanz-Anliker AG. Die Um- und Weitsicht, mit welcher der Gründervater und seine Nachkommen den Betrieb geführt haben, prägen das Unternehmen bis heute. Im Juni feiert die Lanz-Anliker AG, Rohrbach, ihr 100-jähriges Bestehen. Am 15. Juni lädt sie zum Tag der offenen Tür ein.
Rohrbach · Die Herstellung und Reparatur von Pferdegeschirren bildete über Jahrzehnte hinweg die Haupteinnahmequelle der Sattlerei Lanz. Diese wurde von Hans Lanz junior übernommen. Später traten die Söhne Johnny und Ueli die Nachfolge an. Mit der zunehmenden technologisierten Mobilisation der Menschheit ging der Bedarf nach Pferdegeschirr zurück. Dennoch entwickelte sich die Sattlerei kontinuierlich, die mittlerweile stark gewachsen und seit den 1970er-Jahren auf der Allmend im Gebäude der damaligen Uhrenfabrik Scholer tätig war. Der einstige Einmannbetrieb hatte sich nun vor allem auf die Aufträge der Schweizer Armee ausgerichtet.
In der Uhrenfabrik Scholer war vor bald einem Vierteljahrhundert als junger Mechaniker auch Peter Hirschi tätig. Noch wusste er damals nicht, dass ein Stellenwechsel in die Lanz-Anliker AG, der ihm angeboten wurde, einer seiner grössten Meilensteine des Lebens sein würde, dass schon bald das Schicksal eines bedeutenden Unternehmens der Region in seinen Händen liegen sollte. Vor allem: «Ich wusste nichts von Textilien, hatte keine Ahnung von allem. Ich startete hier als Betriebsmechaniker», sagt Peter Hirschi im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler».
Im Mai 1995 trat er in die Lanz-Anliker AG ein. Wenige Monate später avancierte er zum Betriebsleiter. Die Ereignisse überschlugen sich. Nach dem unerwarteten Tod von Ueli Lanz anfangs 1996 übernahm Peter Hirschi die Geschäftsleitung der Lanz-Anliker AG. Das bis anhin hervorragend geführte und finanziell auf solidem Boden stehende Unternehmen ging vorerst in die Hände der Scholer-Inhaber, die damals einen Teil der Aktien besassen.
Vorsichtig – aber dann Hals über Kopf
Später kaufte Peter Hirschi einen Teil der Aktien und vereinbarte auch das Vorkaufsrecht für die Firma. Vorsichtig, denn die Auftragslage der Armee wackelte merklich.
1999 kam der Geschäftsleiter unter Zugzwang. Matthias Scholer wollte die Firma verkaufen, hatte einen Interessenten in Aussicht. Peter Hirschi hatte kaum Zeit zum Überlegen und die Finanzen zu regeln, doch innerhalb von nur ganz wenigen Monaten lag 1999 die Lanz-Anliker AG in den Händen des jungen neuen Inhabers, der sich inzwischen eng mit dem Betrieb verbunden fühlte.
Längstens ist das Unternehmen keine klassische Sattlerei mehr, sondern ein technischer Textilverarbeitungsbetrieb. Als Peter Hirschi 1999 den Betrieb übernahm, war dies allerdings noch anders. Zwischen 95 und 97% der Produkte waren für das Militär bestimmt und stammten aus der Sattlerei. «Wir waren praktisch ein Rüstungsbetrieb.» Nachdem die Militäraufträge stetig zurückgingen – heute nehmen sie noch gerademal 6 % der gesamten Produktion ein – musste sich Peter Hirschi nach anderen Bereichen umsehen. Er bewies dabei ein sicheres Gespür und eine gute Hand: Jedesmal, wenn wieder ein Auftrag des Militärs wegblieb, erhielt die Lanz-Anliker AG in einem anderen Betriebszweig das doppelte Auftragsvolumen «zurück». «Ich glaube, es war mein grosser Vorteil, kein Sattler zu sein», stellt Peter Hirschi fest. «Sattler wollen sattlern, sie sind Handwerker. Ich aber war offen für andere Optionen, zwar auch in textilen Bereichen, aber nicht nur auf einen einzigen fixiert.»
So ergaben sich immer wieder neue Wirkungsfelder, insbesondere in den sechs Linien Filtration (rund 45% des Umsatzes), Sattlerei (rund 25% des Umsatzes), Medizin, Reitsport, Verkehrsmittelinterieurs und Militär. Der Personalbestand von einst rund 30 Mitarbeitenden konnte auf 70 aufgestockt werden. Heute beträgt der Umsatz das Zweieinhalbfache von Ende der 1990er-Jahre.
Wichtige Geschäftsübernahmen
Zwei Geschäftsübernahmen prägten die Lanz-Anliker AG in den letzten 15 Jahren. 2004 die Reitsportartikelmarke Gygax, Zofingen. Gygax wollte die Geschäftstätigkeit im Reitsportbereich beenden und nötigte Peter Hirschi beinahe dazu, den Betrieb zu übernehmen. Mit mehr «also dann» als Motivation integrierte er das Reitsportartikelgeschäft in die Lanz-Anliker AG. Nach anfänglichem «Harzen» entwickelte sich der Bereich prächtig.
Erfolg im Röntgenschutz
Richtungsweisend und ein wichtiger Schritt für die Zukunft der Lanz-Anliker AG war per 2016 die Übernahme des Bereichs Röntgen- und Strahlenschutz des Geschäftspartners Wiroma AG. In das Konzept passte dies hervorragend, denn die Lanz-Anliker AG war schon seit längerem in der textilen Medizinaltechnik tätig. Ihr gelang eine Marktneuheit: Das Rohrbacher Unternehmen stellt weltweit die ersten Röntgenschürzen mit RFI-Chip her. Dieser Chip speichert sämtliche Daten, die für den Benutzer nützlich sind. «Nach wie vor gibt es hier Ausbaupotenzial», freut sich Peter Hirschi.
Grösster Teil der Produktion in Rohrbach
Der Export der Lanz-Anliker AG schwankt, liegt bei 65 – 70%. Das Unternehmen verfügt über Verkaufsniederlassungen in Deutschland, wo der Vertrieb mit dessen Firmennamen läuft. Weitere gibt es in Holland, Belgien und Italien, wo die Produkte durch Partnerfirmen unter deren Namen vertrieben werden. Produziert wird grösstenteils in Rohrbach. Entwickelt wird alles hundertprozentig in der Schweiz. Bei einigen Artikeln ist die Lanz-Anliker AG jedoch gezwungen, in China zu produzieren; dies in enger Zusammenarbeit mit einem südkoreanischen Partner. Ihre Aufträge lasten dort pro Jahr 40 bis 50 Leute aus, die unter sehr guten Bedingungen arbeiten können. Ein zweites Projekt besteht in Moldawien, wo Kleinstartikel für den neu entwickelten «Königlich»-Shop hergestellt werden, für deren Produktion der Betrieb in Rohrbach nicht eingerichtet ist.
Schwingerhosen als Markenzeichen
Trotz nationalem und globalem Erfolg gehört ein überaus traditionelles «Markenzeichen» nach wie vor ins Refugium der Lanz-Anliker AG: die traditionellen Schwingerhosen. Sie gehören zum Betrieb, sind Nostalgie und Kultur, obwohl sie nur gerade 0,3% des Umsatzvolumens ausmachen. In der Schweiz wird die Lanz-Anliker AG oft mit diesen Schwingerhosen identifiziert, denn sie sind eines der wenigen Produkte, welche direkt an die Verbraucher gehen.
Seit Jahrzehnten werden sie hier produziert. Dazu wird ein fester Leinenstoff verwendet, ein Zwilch. In diesem Zusammenhang wurde jüngst denn auch die ganz neue Produktelinie mit einem Online-Shop entwickelt, «Königliches» (www.koenigliches.ch). Taschen, Rucksäcke, Portemonnaies, Wein- oder Bierkühler, Raclette-Körbli und anderes werden aus Zwilch, Leder und Edelweiss-Stoff hergestellt, sind also reine Naturprodukte. Sie tragen dazu bei, dass die Lanz-Anliker AG grössere Mengen des Zwilchs anfertigen lassen kann.
Ökologie und das Schonen der Ressourcen waren Peter Hirschi stets sehr wichtig. In den letzten zehn bis zwölf Jahren wurde viel investiert, um den Energieverbrauch zu minimieren. Unter anderem wurden auf einem grossen Teil der Dachfläche Fotovoltaik-Anlagen installiert. Diese produzieren im Jahresdurchschnitt mehr Strom als dass selbst verbraucht wird.
In Kürze aber soll die «Überproduktion» Strom ebenfalls im Betrieb bleiben. Peter Hirschi liess den alten grossen Öltank, der mit dem Anschluss an den Wärmeverbund nicht mehr benötigt wurde, reinigen und mit einem Kältegerät versehen. Mittels dieses Geräts wird ab diesem Sommer die ganze Produktion aus eigenem Strom gekühlt werden können.
Hinter die Kulissen blicken
Seit Oktober 2017 ist die Firma zu hundert Prozent im Familienbesitz. Mit dem Wechsel wurde eine Holding gegründet; die Lanz-Anliker AG heisst seit dann «Lanz-Anliker Holding AG». Zu diesem Zeitpunkt stieg auch die zweite Generation Hirschi in das Unternehmen ein.
Für Peter Hirschi ist es eine unglaubliche Genugtuung und eine riesige Freude, nach 20 Jahren harter Arbeit das Unternehmen auf einem Stand zu wissen, der Zukunft verspricht und es für die zweite Generation attraktiv macht, am Seil zu ziehen.
Am Samstag, 15. Juni, von 9 bis 16 Uhr, lädt Lanz-Anliker im Rahmen ihres 100-jährigen Bestehens zum Tag der offenen Türe ein. Sie bietet Gelegenheit, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die Schultern zu schauen.
Gut zu wissen
100 Jahre Lanz-Anliker AG, 1919 bis 2019, Tag der offenen Tür am Samstag, 15. Juni, von 9 bis 16 Uhr. Gratis-Bratwurst für alle. Weitere Informationen unter lanz-anliker.com