2500 Kilometer mit 84 Beinen unterwegs
In Ursenbach leben zwei geflüchtete ukrainische Frauen mit ihren aus Kiew mitgebrachten Tieren. Klingt einfach? Ist es aber nicht. Tamara und Svetlana sind mit 15 Hunden und fünf Katzen in einem Van in die 2500 Kilometer entfernte Schweiz geflüchtet – ein Unterfangen, wofür nur schon die Planung mehrere Wochen in Anspruch nahm. Heute sind alle froh, in Ursenbach ein neues zu Hause gefunden zu haben. Doch mittlerweile drängt sich die Frage nach der Zukunft auf.
Ursenbach · Tamara hat ein grosses Herz für Tiere. Das wird ziemlich rasch offensichtlich. Die 34-jährige Ukrainerin beweist das auf ihrem Rundgang in ihrem neuen Zuhause in Ursenbach. «Und hier kommt unsere erste Überraschung», sagt sie, öffnet die Türe und zeigt eine Katze mit sechs Jungen, die höchstens wenige Wochen alt sind. «Mein deutscher Schäferhund hat sie an einer verlassenen Tankstelle in der Nähe von Kiew gefunden. Sie war noch blind, als wir sie fanden, noch ein Junges. Er trug sie einfach ins Auto, also was hätte ich denn anders tun können, als sie mitzunehmen? Und als wir sie, nachdem wir in der Schweiz ankamen, sterilisieren lassen wollten, hat uns der Tierarzt angerufen und gefragt, ob wir denn wissen, ob sie sechs Katzenbabys in sich trägt.» Für Tamara war sofort klar: Sterilisation stoppen, Katzenbabys behalten. «Und für die zweite Überraschung sorgte dann unser Chihuahua, der in der Schweiz plötzlich immer dicker wurde. Es dauerte etwas, bis wir realisierten, dass es nicht das bessere Essen, sondern eine Schwangerschaft ist», lacht die Hundezüchterin. Auch hier war ohne zu zögern klar: Die jungen Hunde dürfen leben. Jetzt halt eben in Ursenbach.
Der Krieg hat alles verändert
So geplant war das eigentlich nicht. Vor Monaten noch waren Tamara und ihre Mutter Svetlana, deren Nachnamen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen, ganz normal beschäftigte Menschen. Zuhause züchteten sie Berner Sennenhunde und Chihuahuas, Tamara arbeitete als Hundetrainerin und betreute Hunde und deren Besitzer, wenn sich Hunde verhaltensauffällig verhielten. Ihre Mutter arbeitete als Pädagogin mit Kindern, die ebenfalls spezielle schulische Bedürfnisse aufwiesen. Und plötzlich kam der Krieg. Der Angriff Russlands auf die Ukraine. «Ich habe von amerikanischen Freunden gehört, dass Russland die Ukraine angreifen wolle. Damals habe ich noch höhnisch, scherzend zurückgeschrieben, dass ich auf diesen Angriff warte und nichts merke. Ein paar Nächte später bin ich dann im Schlaf aufgeschreckt», erzählt die 34-Jährige. Mit ihrer Mutter wohnte sie in der Nähe des grössten ukrainischen Flughafens, wenige Kilometer von Kiew entfernt, und weil ihr Schlafzimmer direkt auf den Flughafen zeigte, habe sie schlaftrunken Szenen wahrgenommen, die sie sonst nur aus Filmen kannte. «Jets flogen, Bomben wurden abgeworfen, es explodierte und knallte.» Schockiert sei sie gewesen. Ratlos. «Was sollte ich tun? Wir hatten gegen 20 Tiere bei uns, meine Mutter und ich lebten hier – und auf einmal waren wir nicht mehr sicher.» Vom einen auf den anderen Moment sei das Leben, wie sie es kannte, zusammengebrochen. Denn, wer braucht in Krisenzeiten schon einen Hundetrainer? Schulen schlossen, ja selbst Lebensmittelläden wurden nicht mehr geöffnet, weshalb sich Hilflosigkeit breit machte. «Wir konnten nichts tun. Und im ersten Moment eigentlich auch nichts einkaufen. Wir hatten dann auch Mühe, unsere Tiere zu füttern», erinnert sich Tamara. Und von heute auf morgen hatte jede einzelne Entscheidung einen Einfluss auf das eigene Leben. Macht es Sinn, sich der Gefahr auszusetzen, nach draussen zu gehen, um einzukaufen? Um Medizin zu besorgen? Oder verbarrikadiert man sich vielleicht doch besser im Keller?
Eine Medaille für ihren Einsatz
Lange hielt Tamara diese Hilflosigkeit nicht aus. Sie entschied sich, zu helfen. Überall, wo es ging. «Innerhalb kurzer Zeit wurde unser Haus umfunktioniert. Es wurde zu einem Zentrum für Volontäre. Wir verarbeiteten Anfragen, suchten nach Gegenständen, Essen und Medizin und verteilten diese weiter.» Nicht selten sei sie mit ihrem Auto durch die Gegend gefahren, habe dem Militär als Lieferant gedient oder der Bevölkerung geholfen und dabei unzählige Checkpoints der Armee passiert. Für ihre Arbeit wurden Mutter und Tochter später von der Regierung mit einem Orden ausgezeichnet – doch auch dieses Engagement hatte keine nachhaltige Zukunft inmitten eines Krieges, der für sie völlig sinnlos erscheint.
Tatsache war aber, dass die russischen Truppen immer näher kamen. Und den nahegelegenen Flughafen immer stärker attackierten. «Es gab eine Woche, in der die ukrainische Front links von unserem Haus war, die russische rechts davon. Es wurde ständig geschossen. Unsere Hunde wurden verrückt, meine Mutter war in Sorge und auch ich wusste nie, ob wir das überleben. Da wurde immer klarer, dass wenn wir flüchten könnten, wir das tun würden.»
Die Tiere zurücklassen? Niemals.
Doch wie? So einfach ging das nicht. Die Tiere zurücklassen? Nie und nimmer. Die eine Katze ist mittlerweile 17 Jahre alt und blind. Eine ihrer Berner Sennenhündin hat sie jahrelang gesund gepflegt, obwohl Tierärzte immer dachten, sie würde nicht einmal laufen können und sie dies mittlerweile mühelos und selbst im hohen Alter noch immer tut. «Aber ein passendes Fahrzeug, um all die Tiere zu transportieren, hatten wir nicht. Die Lage schien aussichtslos.» Dann kam Hilfe aus der Schweiz. Eine Facebookfreundin, die ebenfalls Hunde züchtet, meldete sich bei Tamara und machte ihr Mut, die Ukraine raschmöglichst zu verlassen. «Sie schrieb mir, ich solle zu ihr kommen. Zu ihr auf den Bauernhof. Und ich war überrascht, habe aber einfach nur noch nach dem Wie gefragt.» Nur schon die Flucht zu planen, hat dann drei Wochen gedauert. Letztlich standen auch immer wieder zahlreiche Hindernisse im Weg. Zuerst fehlte der Van, dann der Platz, um Essen mitzunehmen oder auch die Bewilligung, mehr Tiere als eigentlich erlaubt, über die Grenze mitzunehmen. Geholfen haben aber dann plötzlich viele. Allen voran das Militär und die Schweiz. «Menschen mussten stundenlang für fünf Liter Benzin anstehen – und wir brauchten 300. Als wir beim Militär nach Benzin fragten, dauerte es zehn Minuten. Einfach nur, weil wir ihnen zuvor halfen. Ich musste weinen», erinnert sich Tamara. Geholfen habe auch Roland Lörtscher, Ursenbachs Gemeindepräsident, der den zahlreichen Grenzmitarbeitern auf dem Weg in die Schweiz schrieb, dass die beiden Ukrainerinnen nicht vorhätten zu bleiben, sondern nur durchzureisen, weshalb sie ihre Tiere überhaupt mitnehmen durften. Und irgendwann, nach 2500 Kilometern und einer siebentägigen Autofahrt, kam die 84-beinige Crew in der Schweiz an.
Grosszügigkeit überrascht
Die erste Auffälligkeit in der Schweiz? «Wie ungemein freundlich und hilfsbereit die Menschen hier sind.» Untergekommen sind die 22 Lebewesen zuletzt nämlich nicht bei der schweizerischen Freundin, sondern in einem neu renovierten Apartment in Ursenbach. «Sind wir mal ehrlich: Wer stellt einfach so seine neu renovierte Wohnung zwei geflohenen Ukrainerinnen mit 20 Tieren zur Verfügung? Das ist unglaublich grosszügig.» Auch Gemeindepräsident Roland Lörtscher sei unfassbar herzlich gewesen. «Er kam täglich vorbei und fragte, ob es uns an etwas fehlt. Er bezahlte Hundefutter, half bei so vielen Sachen. Wir sind unglaublich dankbar», erzählt Tamara weiter und lobt auch die Nachbarn: «Wenn Pferde vorbeilaufen, dann bellen unsere Chihuahuas wie wild. Es hat noch nie jemanden gestört. Und auch der örtliche Pfarrer Durs Locher hat so viel geholfen. Wir sind wirklich froh, hier zu sein.» Daneben sei auch die Natur ein grosses Plus. Und verständlicherweise vor allem die Ruhe und die Sicherheit. «Zu Beginn sind wir nachts noch panisch erwacht. Heute können wir wieder ruhig schlafen.» Und trotzdem: Der Entscheid, die Ukraine zu verlassen, sei ihr rückblickend schwer gefallen, erinnert sich Tamara. Einerseits sei sie durchaus patriotisch veranlagt. Und die eigene Heimat verlassen, fällt nicht leicht. «Aber irgendwann wurden mir zwei Dinge klar: Ich darf nicht alleine wegen patriotischen Gefühlen meine Mutter und meine Tiere in einer lebensbedrohlichen Lage halten. Und andererseits sind Frauen in Kriegsgebieten keine Hilfe, sondern eine Belastung.» Das habe sich andernorts gezeigt, sagt sie, und erhebt schwere Vorwürfe. Russische Soldaten würden keine Gnade kennen, würden unaussprechliche und teilweise auch perfide Dinge tun. Das von ihr in diesem Zusammenhang wohl noch harmloseste Beispiel sei hier erwähnt. «Sie haben ihre Raketen und Panzer immer gerne vor bewohnten, zivilen Häusern geparkt. So konnten die ukrainischen Streitkräfte nicht angreifen, weil sie wussten, dass sie letztlich ihr eigenes Volk ebenso treffen würden.» Unter solchen Aspekten, zumal auch ihr Haus von einem Angriff zerstört wurde, sei der Entscheid, in die Schweiz zu flüchten, irgendwann gereift – und heute, in Anbetracht der Lage, sei sie froh, diesen richtigen Entscheid gefasst zu haben.
Nach mittlerweile etwas mehr als zwei Monaten in der Schweiz stellt sich aber schon bald die Frage nach der Zukunft. «Ob wir bleiben werden? Keine Ahnung. An eine Rückkehr denke ich zurzeit nicht, weil ich nicht glaube, dass dieser Krieg bald endet», sagt Tamara. Und sollten die ukrainischen Truppen gewinnen, rechnet sie bereits mit Rachefeldzügen von russischer Seite, sagt sie. «Letztlich hängt es davon ab, ob wir hier arbeiten können. Ich will dem Staat nicht zur Last fallen. Ich will vielmehr den Menschen, die mir geholfen haben, etwas zurückgeben.» Aber dann, sagt Tamara, wenn sie beide Arbeit finden würden, könnte sie es sich tatsächlich vorstellen, in der Schweiz zu bleiben. Denn zurückkehren, daran denkt sie nach den Geschehnissen der letzten Monate, die sie wahrlich hautnah miterlebte, vorerst tatsächlich nicht.
Von Leroy Ryser