• Ruth Stalder aus Lützelflüh hat sich über viele Jahre hinweg ein riesiges Wissen über alte Kleidung angeeignet. Bild: Liselotte Jost-Zürcher

19.07.2019
Emmental

65 massgeschneiderte Kleider für «Jeremias»

«Wenn ich Leute vor mir sehe, möchte ich diese am liebsten schön einkleiden, so wie es ihnen entspricht», sagte Ruth Stalder aus Lützeflüh am Rande einer Vorstellung der Freilichtspiele Schmidigen. Hier tut sie es tatsächlich. Seit Wochen und Monaten für das aktuelle Stück «Jeremias» und schon zuvor in allen Stücken, die in Schmidigen aufgeführt worden sind. Die gelernte Damenschneiderin ist zuständig für die Kostümierung. Sie hat sich über viele Jahre hinweg ein riesiges Wissen über alte Kleidung angeeignet.

LÜTZELFLÜH · Vor 15 Jahren erklärte die damals 60-jährige Lehrerin Ruth Stalder aus Lützelflüh: «Äs längt!» Obwohl sie immer sehr gerne unterrichtet habe. «Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen hat mir einfach zugesagt.» Aber nach 40 Jahren Lehrertätigkeit und nachdem die eigenen Kinder ausgeflogen waren, wollte sie sich etwas anderem widmen. 

Dieses «andere» kam viel schneller und unverhoffter, als sie dachte. Von den «Lützelflüher Spiulüt», namentlich vom Präsidenten der «Spiulüt» Samuel Schüpbach, wurde sie angefragt, ob sie für das nächste Stück die Kostümierung übernehmen wolle. 

Einen Fundus schaffen

Ja, das würde ihr bestimmt zusagen, meinte die gelernte Damenschneiderin, die im Anschluss an diese Berufslehre auch noch das Lehrerseminar absolviert hatte. Sinnigerweise war es das Stück «Jeremias», welches 2004 in Lützelflüh aufgeführt worden war. «Jeremias» am Anfang, «Jeremias» dieses Jahr auf der Freilichtbühne Schmidigen, vielleicht auch am Ende. «Das würde den Kreis schliessen», sinniert Ruth Stalder im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler». 

Als sie damals den «Lützelflüher Spiulüt» zugesagt habe, sei sie «auf die Welt gekommen». Sie hatte die Aufgabe massiv unterschätzt. Vor allem aber verfügte sie selbst über keinen Fundus. Den ganzen Winter lang schneiderte sie, änderte, versuchte, wo immer sie konnte, alte Kleider aufzutreiben. Heute kann sie aus dem Vollen schöpfen. Menschen öffneten ihre Tröge, überliessen ihr Kleider, Schuhe und Requisiten der Ahnen. In den Kammern im gut durchlüfteten Dachstock in ihrem Haus, der über ein hervorragendes Klima verfügt, stehen Kleiderständer mit unzähligen gepflegten, gewaschenen, gebügelten und geflickten Kostümen. Alle sind fein säuberlich angeschrieben. Da finden sich Trachten, Mieder, «Tschööpeli», «Bchleidige», Kutten wie «Ueli der Knecht» sie getragen hatte, Gilets, Tücher, «Schärpen», vieles davon ausschliesslich für den traditionellen Gotthelfmärit in Sumiswald. 

Alte Stoffe mit hervorragender Qualität

Historische Uniformen, alte, wunderschöne Röcke mit passenden Hüten, Leder- und Holzschuhe säumen sich. Dazu kommen einstige Stallhosen und -blusen, die teils mit «Plätzen» übersät sind, damit sie immer wieder verwendet werden konnten. Von Hand geflickt, versteht sich. 

Zu den Sachen wurde früher Sorge getragen. «Die Stoffe hatten und haben bis heute eine hervorragende Qualität. Es sind wunderbare Stoffe», schwärmt Ruth Stalder. Sie holt zum Vergleich zwei Trachtenmieder hervor. «Sehen Sie, dieses ist neu – es fühlt sich an wie ein Frottiertuch. Und hier dieses. Es mag hundertjährig sein, aber es ist ein wunderbarer Seiden-Jacquard.» 

Der Unterschied ist überwältigend, auch für Nichtkenner. «Wenn ich jeweils eine Schürze oder sonst ein Kleid erhalte, das gebrochen ist, weil es zusammengelegt und schlecht gelagert worden war, könnte ich weinen.» 

Formen und Farben – einfach schön

Während sie die alten Stoffe verarbeite, sehe sie Qualität, die es heute nicht mehr gebe, und herrliche Jacquard-Stoffe, die zu weben mit den heutigen Webstühlen nicht mehr möglich sei.

Ruth Stalder liebt die herrlichen Stoffe, sie liebt aber auch die Kleider. «Die Kleider unserer Vorfahren hatten Farben, sie hatten Formen, sie hatten viele liebevolle Details. Zu Gotthelfs Zeit durfte man sich nicht entblössen. Die Frauen mussten lange Röcke und Ärmel sowie geschlossene Kragen tragen. Aber man durfte die Körperform zeigen, man war stolz darauf. Die Leute achteten sehr darauf, sich sorgfäl-tig zu kleiden und zu den Kleidern Sorge zu tragen.»

Geschichten im Verborgenen

Weggeworfen wird bei Ruth Stalder nichts. Sorgfältig und in stundenlanger Arbeit trennt sie die alten Stücke auf, löst Spitzen, Pailletten, Stoffe, Fischbein heraus, legt es beiseite, um es schon bald wieder zu verwenden. Sie studierte Bücher, besuchte Museen, um alles über alte Kleidungen und Kleidungsgewohnheiten zu erfahren. Abgetragene oder zerrissene Stücke werden unter ihren geschickten Händen wieder wie neu, oder sie behalten das «Alter», sind aber wieder tragbar und ein Spiegel von Zeiten, die längst vergangen sind. 

In Ruth Stalders Fundus liegen Tausende Geschichten verborgen. Niemand kennt sie. Aber manch einer mag ein bisschen etwas davon ahnen, wenn er die fliessenden oder geflickten Stoffe durch die Finger gleiten lässt. 

Wissen, was Sache ist

Hat die Schneiderin früher in zwei, drei Abenden von den Mitgliedern der Theatercrews Mass genommen und anschliessend mit Hervorsuchen und Schneidern begonnen, hat sie es in Schmidigen dieses Jahr anders gemacht. «Ich konnte es mir nicht mehr vorstellen, 65 Menschen auf einmal anzuschauen und sie dann einzukleiden. Denn es ist mir wichtig, zu wissen, was sie in ihrer Rolle fühlen, wie sie sich selbst ihre Kleider vorstellen, mit was ihnen wohl ist.» So lud sie nacheinander alle zu ihr nach Hause ein. Da kamen Jüngere, Ältere, Familien, Paare … «Es war unglaublich schön, sie alle kennenzulernen und ein bisschen etwas auch aus ihrem realen Leben zu erfahren.» Denn bevor sie sich an die Kostümierung machte, wollte sie wissen, was Sache sei. So auch beim kleinen Leon, der im Theaterstück seiner (richtigen) Mutter sagen muss, er wolle nicht mehr zu ihr zurück, weil sie ihn nur schlage. «Die Eltern sagten mir, sie hätten mit dem Buben darüber gesprochen. Er verstehe völlig, was Theater und was real sei. Ich habe ihnen sofort geglaubt. Diese Familie stimmt in sich.» 

Platz für das Spiel und auch Platz für die Realität

Als Wochen später die fertig gekleideten Buben vor ihr standen, befürchtete Ruth Stalder plötzlich, der Kleine könnte sich erkälten, wenn es während der Vorstellung kühl werde. «Ich gab dem Bübchen eine Mütze und ein Tüchlein und habe jetzt sehr grosse Freude, dass er es gerne trägt.» Überhaupt musste sie blitzschnell auch für die Mädchen noch Ärmel auftreiben, weil es seit Spielbeginn doch einige sehr kühle Abende gab.

Viele der Darstellenden kennt Ruth Stalder seit Jahren. In zahlreichen Freilichttheatern im Emmental stand sie an der Front. Sie erlebte mit ihnen Schönes und Trauriges im Wissen, dass beides zum Leben gehört: «Ich merke es den Leuten an, wie sie an schweren Momenten reifen.» Schmidigen sei dabei sehr speziell: «Hier sind alle Darstellenden ein bisschen zuhause. Sie fühlen sich willkommen, geborgen und ernstgenommen in einer grossen Familie. Es hat Platz für das, was sie im Alltag erleben und manchmal ertragen müssen, aber auch Platz für das, was einst Realität war und sie im Theaterstück nun wieder neu beschäftigt.» Nicht selten würden sich die Darstellenden in den Rollen selbst finden.

Wenn in einem Monat die Freilichtspiele Schmidigen 2019 schon wieder der Vergangenheit angehören, die Darstellenden und Organisierenden in den Alltag zurückkehren, beginnt für Ruth Stalder die grosse Arbeit mit Waschen, Bügeln, Flicken, Beschriften, Schuhe zum Schuhmacher bringen, Leder pflegen ... Denn an den Ständern und in den Schränken auf ihrem Estrich ist immer Bewegung. 

Landauf, landab bekannt

Ihr Fundus, ihre echten, mit viel Liebe aufbereiteten alten Kleidungsstücke und Requisiten sind längst weitherum bekannt. Manchmal von weither melden sich Leute mit ihren Anliegen und mit der Bemerkung, man habe ihnen gesagt «äs sig do im Ämmitau eini, wo auti Chleider heig u die zwägmachi.» 

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Richtige finden, ist gross. Denn einerseits ist der Fundus fast unerschöpflich, und anderseits blickt die Besitzerin nicht nur auf die «Anliegen», sondern auch in die Herzen der Menschen. Noch während ihr Gegenüber formuliert, was passen könnte, sieht Ruth Stalder schon, was passen wird.

Von Liselotte Jost-Zürcher