• Grosses Theater in der Car-Garage Sommer in Grünen: Die Lützelflüher Spielleute an einem der letzten Probenabende, bevor sie mit «Hôtel du Commerce» Premiere feiern werden. Vorne im roten Kleid die Halbweltdame Elisabeth Rousset (Annelies Walker). · Bild: Elsbeth Anliker

13.04.2017
Emmental

Adlige lassen ihre Masken fallen

Mit der Tragikkomödie «Hôtel du Commerce» zeigen die Lützelflüher Spielleute ein Stück Zeitgeschichte aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Unter der Regie von Kurt Brechbühl wird die moralische und patriotische Verlogenheit des Hochadels entlarvt. Nächsten Dienstag ist Premiere. Spielort ist die Car-Garage Sommer in Grünen.

Lützelflüh · Es ist Dienstagabend. Die Lützelflüher Spielleute proben in der Car-Garage Sommer in Grünen, ein idealer Spielort wegen der guten Infrastruktur. Die Tribüne steht, das Bühnenbild ist fertig aufgebaut: «Hôtel du Commerce» –  ein heruntergekommenes  Durchgangshotel in einem von den Preussen besetzten kleinen Dorf in der Normandie. Eine «bessere» Gesellschaft reist an –  müde und ausgehungert: Ein Graf und die Gräfin, ein Fabrikant mit Gattin, ein Weinhändler und seine Frau, eine Ordensschwester, ein Journalist –  und die Halbweltdame Elisabeth Rousset, begleitet von dem ihr stets zu Diensten stehenden Kutscher Louis.

Ein hochbrisantes Thema

Die Lützelflüher Spielleute haben mit dem Stück «Hôtel du Commerce»,  das auf Guy de Maupassants Erzählung «Boule de suif» basiert, brisante Theaterkost gewählt. In dieser Komödie von Fritz Hochwälder fliehen während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 zehn Personen ganz unterschiedlicher sozialer Stellung mit einer Postkutsche aus der von den Preussen besetzten Normandie. Samuel Schüpbach, Präsident der Lützelflüher Spielleute, spielt selber leidenschaftlich gern Theater. In der aktuellen Produktion verkörpert er den dünkelhaften  Fabrikanten Carré-Lamandon. Dieser lässt den Blick immer wieder abwertend über die Prostituierte Elisabeth Rousset wandern – vom schwarzen kleinen Hut bis zu den schwarzen Strümpfen und den rot lackierten Stöckelschuhen. Aus dem reichen Fundus von Ruth Stalder stammen die Kostüme. Sie besitzt das Flair, getragene Kleider der Rolle entsprechend  auszuwählen und anzupassen. 

Freude am Theaterspielen

Der Hochadel in noblen Roben lässt die Prostituierte spüren, dass sie bloss zum gesellschaftlichen Bodensatz gehört. Doch davon lässt sich Elisabeth Rousset nicht beirren: Sie geht aufrecht. Und sie teilt bereitwillig ihren Proviant mit den anderen, auch wenn diese ihre Verachtung für die Dirne nicht verhehlen. Diese Rolle zu spielen, bereite ihr viel Freude, sagt Annelies Walker. Die 47-Jährige ist ausgebildete Hebamme und lebt in Grosshöchstetten. Elisabeth sei eine grad-

linige, starke und mutige Frau, die sich auch gegen den moralisch und patriotisch verlogenen Hochadel durchsetzen könne – und das gefalle ihr an dieser Figur sehr, sagt sie.

Zufriedener Regisseur

Sich in die Rolle einleben zu können, das sei das Wichtigste beim Theaterspielen überhaupt, sagt Regisseur Kurt Brechbühl. Seit mehr als 40 Jahren schreibt und inszeniert er Theater  – und spielt auch selber gerne. «Das Theater ist mein Lebensexilier»,  sagt der 64-Jährige aus Zollbrück. An diesem Probeabend sitzt er auf der Tribüne in der vordersten Reihe, beobachtet jedes Detail genau und macht sich Notizen. Erst am Schluss wird er mit den Akteuren die Probe besprechen. «Sie machen es sehr gut», lobt er aber schon in der Pause. «Es sind alles erfahrene Laienschauspieler.» 

Die Inszenierung ist präzise und klar mit wenigen, aber markanten Requisiten. Den Raum füllen die Laiendarsteller mit Emphase und Dramatik. Der Regisseur gibt jeder Figur ihr eigenes Gepräge. Da beeindruckt beispielsweise der arrogante Graf Hubert de Breville. Res Baumgartner verkörpert die Figur des Grafen. «Ein neues Theaterstück einzustudieren ist immer wieder unglaublich spannend und faszienierend», begeistert sich der Lehrer aus Lützelflüh. Und mit viel Empathie spielt Annelies Walker die Prostituierte. Dass diese das Herz auf dem rechten Fleck hat, zeigt ihre Flucht, obwohl sie gut an ihnen hätte verdienen können, verweigert die überzeugte Patriotin den feindlichen Soldaten ihre Liebesdienste

Aktuell wie im 19. Jahrhundert

Fritz Hochwälders Komödie zeigt die Doppelmoral einer sogenannten besseren Gesellschaft und hält ihr den Spiegel vor. In der Figur der Dirne Elisabeth zeichnet er die einzige Aufrichtige und ausserdem überzeugende Patriotin, die sich durch die überhebliche und verächtliche Attitüde der Höhergestellen nicht beirren lässt. Schliesslich liegt sogar das Schicksal aller Reisenden in ihren Händen: Nur wenn sie sich dem preussischen Offizier für eine Nacht hingibt, darf die Gruppe weiterreisen. «Hôtel du Commerce» ist ein Theaterstück, das heute gerade so aktuell ist, wie es im 19. Jahrhundert  war. 

Gut zu wissen

Am kommenden Dienstag, 18. April, ist Premiere. Derniere: Freitag, 5. Mai. Spieltage sind jeweils Dienstag, Mittwoch, Freitag und Samstag in der Car-Garage Sommer in Grünen. Spielbeginn 20.15 Uhr, Türöffnung 19.15 Uhr. Reservationen unter www.theater-lützelfüh.ch und bei Emmental Tourismus, Tel: 034 402 42 52. Tickets ab 19 Uhr an der Abendkasse; Tel: 078 774 65 56. Weitere Infos: www.theater-lützelflüh.ch 


Von Elsbeth Anliker