• Alexandra Kämpfer (links) und Therese Kämpfer gründeten zusammen den Verein myPeer. · Bild: Irmgard Bayard

21.02.2022
Langenthal

Als Betroffene Erfahrungen weitergeben

Vor einem Jahr gründeten die querschnittgelähmte Therese Kämpfer und ihre Tochter Alexandra Kämpfer den Verein myPeer. Speziell geschulte «Peers», also Experten aus Erfahrung, unterstützen Betroffene in einer ähnlichen Situation. Sie geben ihr Wissen aber auch an Forscher, Studierende, Schulen und interessierte Organisationen weiter.

Langenthal · Mit welchen Tricks kann eine Rollstuhlfahrerin ihr kleines Kind vom Boden aufheben? Wer erklärt einem Querschnittgelähmten, ob und wie er seine Sexualität ausleben kann? Wie geht man mit einem Schicksalsschlag um? Das sind Fragen, welche erfahrene Betroffene an neu in diese Situation Gelangte weitergeben können. Genau dort setzt der von Therese Kämpfer und ihrer Tochter Alexandra Kämpfer vor einem Jahr gegründete Verein myPeer an. Denn besondere Situationen brauchen eine besondere Wegbegleitung.
Therese Kämpfer war gerade mal 21 Jahre alt, als sie auf dem Nachhauseweg von einem Nachtdienst mit dem Töffli verunglückte. Dieses Ereignis stellte das Leben der jungen Frau auf den Kopf, denn seit diesem Zeitpunkt bewegt sie sich im Rollstuhl. Ihren erlernten Beruf als Kinderkrankenschwester konnte sie nicht mehr ausüben. Also besuchte sie nach der Reha das Lehrerinnenseminar in Langenthal und liess sich zur Unterrichtsassistentin umschulen, um fortan Arzthelferinnen mit auszubilden. Ihr Berufsweg führte sie später zurück ans Paraplegikerzentrum in Nottwil (SPZ), wo sie ein Peer Counceling (Beratung von Behinderten für Behinderte) aufbaute und betreute. «Zudem wurde ich zu einem kleinen Prozentsatz im Qualitätsmanagement eingesetzt», erzählt Therese Kämpfer. Dazu gehörte, dass sie Querschnittgelähmte kurz vor ihrem Austritt zur Zufriedenheit der Betreuung im SPZ befragte. «Die Interviews dauerten in der Regel weniger lang als die Beantwortung der Fragen, welche mir gestellt wurden», erinnert sie sich. «Denn gerade wenn es um praktische Dinge geht, kann eine selbst betroffene Person besser Tipps geben als das Fachpersonal.»
 
Praktische Tipps weitergeben
Therese Kämpfer bekam nach fünf Jahren im Rollstuhl ihr erstes Kind. «Als Kinderkrankenschwester hatte ich keine Angst im Umgang mit dem Neugeborenen, stand aber vor anderen Herausforderungen. Zum Beispiel der Frage, wie hebe ich das Kleine auf.» Ihre Idee: Sie rüstete das Kind mit Latzhosen aus. «So konnte ich es wie eine Katzenmutter vom Boden aufheben.» Diese und andere praktische Tipps konnte die Langenthalerin weitergeben. «Das kann jemand ohne Erfahrung nicht.» Da auch Männer Antworten suchten, zum Beispiel in Bezug auf ihre Sexualität, wurden im SPZ fortan auch betroffene Herren eingesetzt. «Als ich nach 20 Jahren im SPZ aufhörte, waren wir acht Beraterinnen und Berater.» Allerdings waren dies zwar alles Betroffene, aber doch Laien. Ein Umstand, den die mittlerweile 62-Jährige ändern wollte.

Unterstützung professionalisieren
Zusammen mit ihrer 36-jährigen, in Huttwil wohnenden Tochter Alexandra Kämpfer, welche an der Berufsfachschule in Langenthal Fachangestellte Gesundheit (FaGe) ausbildet, gründete sie am 1. Februar 2021 den Verein myPeer. Dessen Ziel ist es, frisch Betroffene von erfahrenen Betroffenen zu coachen – nicht nur Querschnittgelähmte. Die am neuntägigen Kurs Teilnehmenden lernen, die eigene Lebensgeschichte und deren Verarbeitung zu reflektieren und bauen ihr Expertenwissen darauf auf. Themen des Kurses sind zum Beispiel Nähe und Distanz, Ressourcen nutzen, Umgang mit schwierigen Situationen und Emotionen und so weiter. «Der Kurs besteht aus zweimal zwei Tagen Praxisarbeit durch uns und fünf Tagen im Coachingcenter in Olten und schliesst mit einem Zertifikat ab», erklärt Alexandra Kämpfer. Wer bereits über eine Coachingausbildung verfügt, kann diesen Teil auslassen. «Jedoch verpflichten sich die Absolventinnen und Absolventen, eine jährlich wiederkehrende Weiterbildung und die angebotenen Supervisionen zu besuchen.»

Der Trauerprozess muss beendet sein
«Zielgruppe sind Frauen und Männer, die persönlich von einer chronischen Krankheit, einem Schicksalsschlag, einer Sucht oder einer Behinderung betroffen sind», erklärt Alexandra Kämpfer, welche zusammen mit ihrer Mutter und dem Paraplegiker Stephan Freude die Ausbildung des praktischen Teils bestreitet. «Die Teilnehmenden müssen mindestens seit zwei Jahren betroffen sein und ihren eigenen Trauerprozess hinter sich haben», betonen Therese und Alexandra Kämpfer. Die Treffen sollen nämlich keine Klagestunden, sondern Ressourcenförderung sein.
Diese Ausbildung ist neu in der Schweiz und soll nicht als Freiwilligenarbeit, sondern als berufliche Tätigkeit eingesetzt werden können. Aus eigenen Erfahrungen wissen die beiden Fachfrauen, dass solche Peers gefragt wären, da sie etwas mitbringen, was in Institutionen oft fehlt: Zeit. «Sogar die Polizei ist daran interessiert», weiss Alexandra Kämpfer aus Gesprächen. «Peers als Unterstützung würde diese unter anderem bei der Betreuung von jugendlichen Suchtkranken gerne annehmen.»
Pro Kurs werden zwölf Personen unterrichtet. Der erste Kurs beginnt im April, ein weiterer ist im Herbst geplant. Finanziert werden diese vorerst mit Geldern von Stiftungen, Vereinen und privaten Gönnern. «Ziel ist es, kostendeckend zu arbeiten», sagt Therese Kämpfer. Anmeldungen sind bereits eingegangen, weitere werden unter anderem via Kontakten zu Patientenorganisationen von durch Mund-zu-Mund-Propaganda rekrutiert. Eine Vermittlungsplattform auf der Homepage von myPeer sorgt für die Vernetzung. Und nicht zuletzt sollen die ausgebildeten Peers Studierende, die Industrie und das Gewerbe, aber auch die Forschung unterstützen und zur Entwicklung von Hilfsmitteln beitragen. Infos:
www.mypeer.ch

Von Irmgard Bayard