• Als Spitalseelsorgerin ist Claudia Graf nahe am Puls des Lebens. · Bild: zvg

24.03.2022
Langenthal

«Als Spitalseelsorgerin muss man über den Gartenzaun hinaussehen können»

Ab 1. Mai übernimmt die gebürtige Bernerin Claudia Graf die Stelle als Spitalseelsorgerin im Spital SRO Langenthal. Sie hat an der Universität in Bern Theologie studiert und sich danach auf die Seelsorge spezialisiert. Seit 19 Jahren ist sie in der Spitalseelsorge tätig, zuletzt im Spital Bülach. An der Universität Bern ist sie Studienleiterin für Spital- und Klinikseelsorge. Der «Unter-Emmentaler» hat sich mit ihr über den spannenden und abwechslungsreichen Beruf unterhalten.

Langenthal · Claudia Graf, was hat Sie dazu bewogen, Theologie zu studieren?
Ich hatte nach dem Gymnasium eigentlich überhaupt nicht darüber nachgedacht, Theologie zu studieren, viel eher wären Medizin, Psychologie, Logopädie oder auch Sprachen in Frage gekommen. Doch ein Pfarrer aus meiner Gemeinde sagte mir diesen einen Satz, der mich dazu bewog, Theologie zu studieren: «Wenn du Theologie studierst, kannst du dich mit Fug und Recht mit allem befassen, was das Leben betrifft.» Während meines Praktikums, das ich in Huttwil absolvierte, hatte ich dann aber das Gefühl, dieser Beruf wäre doch nichts für mich. Der damalige Pfarrer sah das anders und motivierte mich, weiterzumachen. Meine erste Pfarrstelle war in der neu erschaffenen Kirchgemeinde Oberbipp im Pfarrkreis Wiedlisbach. Ich konnte sie zusammen mit Mitarbeitern und Ehrenamtlichen selbst aufbauen. Fünf Jahre war ich dort, bis ich von der Universität in Bern ein Angebot erhielt, bei einem grossen Forschungsprojekt mitzuarbeiten. Wir befassten uns dabei mit Ritualen in Familien. Ich habe meine Dissertation daraufhin über Gotte und Götti geschrieben.

Weshalb haben Sie sich für die Spitalseelsorge entschieden und nicht für ein Gemeindeamt?
Nach dem Forschungsprojekt hatte ich mich auf eine Pfarrstelle im Kanton Thurgau und auf eine Stelle als Spitalpfarrerin in Luzern beworben. Da ich bereits während dem Studium im Pflegebereich arbeitete und eine Zusatzausbildung in Spitalseelsorge gemacht hatte, entschied ich mich für die Stelle in Luzern. Als Spitalseelsorgerin bin ich noch etwas näher am Puls des Lebens als der Gemeindepfarrer. Dabei bin ich immer ein Teil des Spitals und teile mit dem Pflegepersonal und den Ärzten den Alltag. Die Grundsatzfragen sind aber immer die Gleichen, egal ob Gemeindepfarrerin oder Spitalseelsorgerin: Was ist wirklich wichtig, woher kommen wir, wohin gehen wir?

 Welche Fähigkeiten muss eine Spitalseelsorgerin Ihrer Meinung nach mitbringen?
Interesse an Theologie und Medizin sowie die Möglichkeit, über den Gartenzaun hinaus zu sehen. Wichtig ist auch eine hohe Frustrationstoleranz, Einfühlungsvermögen, ein sauberes Handwerk und man muss die Menschen gernhaben. Denn diese sind nicht immer sofort über meinen Besuch begeistert. Ich kämpfe nicht selten gegen Vorurteile und schlechte Erfahrungen an. Manche denken, ich käme, um zu missionieren. Das Vertrauen aufzubauen, ist sehr wichtig. Dabei mache ich häufig die wichtigsten Erfahrungen mit denjenigen Menschen, die mir anfangs skeptisch gegenüberstanden.
Eine Zeit lang begleitete ich eine Patientin, welche in einer unmittelbaren Krise steckte. Sie wollte keine Therapie mehr, sondern nur noch sterben. Sie wollte auch mit niemandem mehr reden. Da sie mich kannte, kamen wir trotz allem ins Gespräch und ich konnte sie von einer Reha überzeugen. Etwas später erzählte sie mir, dass sie während der Reha einen wunderschönen Sonnenaufgang gesehen habe, den sie nicht hätte miterleben können, hätte sie sich nicht von mir überzeugen lassen. Bei meiner Arbeit reichen der Glaube und der gute Wille allein nicht aus. Es braucht auch eine gut fundierte Ausbildung.

Ist dieser Beruf durch den immerwährenden Kontakt mit kranken Menschen nicht belastend?
Ja, er ist manchmal sehr belastend. Gerade während der Corona-Zeit und bei Notfalleinsätzen. Aber er ist auch enorm bereichernd. Die massive Zusatzbelastung durch die Pandemie machte es für alle schwieriger, es hat uns aber innerhalb vom Spital auch enger zusammengeschweisst. Bei Notfalleinsätzen komme ich manchmal an meine Grenzen oder sogar darüber hinaus. Doch auch am Sterbebett kann man manchmal noch mit den Patienten zusammen lachen. Das sind dann die kostbaren und bereichernden Momente. Mein Besuch bei den Menschen ist anders als ein Angehörigenbesuch, es ist ein professioneller Dienst. Dankbar bin ich jeden Tag, dass ich am Abend wieder gesund nach Hause gehen darf.

Man sagt den Spitalseelsorgenden nach, sie seien Todesengel. Ist es so, dass Sie mehrheitlich zu Patienten gerufen werden, welche schwer krank respektive deren Heilungschancen gering sind?
Das ist ein schlimmer Ausdruck. Nein, Todesengel sind wir nicht, die Seelsorge betrifft das ganze Leben. Ich gehe auch zu den Wöchnerinnen, um zu gratulieren. Die allermeisten Leute verlassen das Spital wieder gesund oder zumindest geht es ihnen wieder besser. Aber es stimmt schon, wenn es ums Sterben und um fehlende Heilungschancen geht, ist es besonders wichtig, dass diese Menschen, ihre Angehörigen und auch das Pflegepersonal nicht allein gelassen werden und wir für sie da sind. Zusammen freuen wir uns dann an den kleinen Dingen, wie wenn beispielsweise ein Schmerzmittel wirkt. Dem Sterben kann man nicht ausweichen.

Haben Sie in Ihrer langjährigen Tätigkeit als Spitalseelsorgerin schon Fälle erlebt, die Sie bis heute nicht mehr loslassen?
Ich kann nicht sagen, dass es etwas gibt, dass mich nicht mehr loslässt. Die Geschichten der Patienten gehören zu meinem Leben, ob im positiven oder negativen Sinn.

Was geht Ihnen bei Ihrer täglichen Arbeit besonders nahe?
Der Druck im Gesundheitswesen ist häufig beelendend. Spätestens mit der Corona-Pandemie haben viele gute Pflegekräfte, die sich einsetzten, resigniert.

Stumpft man mit der Zeit nicht ab?
Ich würde es eher ein «existenzielles Mänteli» nennen. Aber es stimmt schon, die Arbeit als Spitalseelsorgerin bringt auch eine gewisse Routine mit sich. Durch meine Selbstständigkeit kann ich aber auch viel selbst gestalten, ich weiss ja nie, was mich hinter einer Tür erwartet.

Kann die Seelsorge bei der Heilung helfen?
Ob die Seelsorge die Selbstheilungskräfte aktivieren kann, kann ich so nicht bestätigen. Den Patienten tut es meist einfach nur gut, mit mir zu plaudern. Das Thema spielt dabei keine Rolle. Da ich in das Spital-System mit eingebunden bin, darf ich durchaus auch kritisch sein und intervenieren, wenn ich das Gefühl habe, es laufe etwas schief. So kann es vorkommen, dass ich Patienten beispielsweise darauf hinweise, dass sie das Recht auf eine Zweitmeinung haben und ihnen anbiete, bei dem Gespräch dabei zu sein.

Führen Sie auch Gespräche mit Angehörigen?
Unbedingt, der Mensch ist ein Teil eines sozialen Gefüges. Häufig leiden die Angehörigen mehr als die Patienten selbst. Aber manchmal ist es wichtig, dass ich nur für den Patienten da bin. Dann mache ich das mit den Mitarbeitern des Spitals und den Angehörigen so ab. Es gibt jedoch auch Sterbende, welche zu jemandem, den sie nicht kennen, keinen weiteren Kontakt haben möchten. Das respektiere ich dann auch.

Spitalseelsorge ist eine sehr emotionale Aufgabe, die alles andere als einfach ist. Wie verarbeiten Sie das Erlebte und wie schöpfen Sie Ihre Kraft, um jeden Tag aufs Neue motiviert in den Tag zu starten?
In einem Spital gibt es für Seelsorgende wenig Freiraum, und ich bin immer auf mich allein gestellt. Dabei muss ich wissen, wann ich Verstärkung hole und wann nicht. Doch ich habe die Freiheit, am Abend früher nach Hause zu gehen oder am Morgen etwas später anzufangen und stattdessen spazieren zu gehen oder ein warmes Bad zu nehmen. Ich weiss, dass ich die Welt nicht retten kann und auch nicht muss, aber ich kann helfen, etwas auszuhalten. Ansonsten kann ich mich mit Freundinnen, welche ebenfalls Spitalseelsorgerinnen sind, anonymisiert austauschen. Zum Ausgleich holze ich, schwimme, lese oder koche und backe für meinen bunten Freundeskreis.

Steht das Konfessionelle bei der Seelsorge im Spital eher im Vordergrund oder im Hintergrund?
Ich habe eine konfessionelle Identität und jeder Mensch hat seine Weltanschauung, zu der er sich bekennt, was ich respektiere. Dabei interessiert es mich schon, zu welcher Glaubensrichtung der Patient gehört, damit ich bei Bedarf Kontakt zur eigenen Glaubensgemeinschaft herstellen kann. Die Glaubensrichtung ist aber kein Ausschlusskriterium oder ein Hindernisgrund für meine Arbeit. Ich bin offen für das, was bewegt, unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit.

Hat sich der Umgang mit Krankheit und dem Tod durch die Corona-Krise verändert?
Da es uns alle betroffen hat, war es vermehrt im allgemeinen Bewusstsein. Ich denke aber nicht, dass sich durch die Corona-Krise der Umgang mit Krankheit und Tod grundlegend oder langfristig verändern wird.

Wie gestaltet sich nach Ihren bisherigen Erfahrungen die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal und den Ärzten?
Ich gehöre dazu, fühle mich aber trotzdem manchmal fremd. Ansonsten ist die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal und den Ärzten sehr gut. Als Beispiel bin ich im Spital Bülach bei der Weihnachtsvisite mit dabei und in dieser Zeit ebenfalls ein Teil des erweiterten Behandlungsteams. Aber auch sonst stehe ich dem Team jederzeit zur Verfügung, wenn Redebedarf besteht.

Weshalb möchten Sie Ihre Stelle vom Spital Bülach nach Langenthal wechseln?
Ich bin in Bern aufgewachsen und Lan­genthal ist wieder näher an meinen biografischen Wurzeln. Zudem ist es, da ich letztes Jahr 50 Jahre alt wurde, an der Zeit, einen nächsten Schritt zu tun. Schön finde ich die gute Zusammenarbeit zwischen dem Spital Langenthal und dem kirchlichen Bezirk.

Marion Heiniger im Gespräch mit Claudia Graf, Spitalseelsorgerin