• Jonathan Hirschi, hier im Verkaufsladen des KIA-Projektes, bietet ausgesteuerten Personen einen Tagesablauf. · Bild: Leroy Ryser

07.03.2018
Langenthal

«Ausgesteuerte» sind keine «Glünggis»

Ausgesteuerten Personen müssen mit einem Kleinstvermögen über die Runden kommen. Ihnen fehlen auch sämtliche Tagesstrukturen. Der Verein maxi.mumm bietet mit seinem Projekt «KIA» Hand und unterstützt diese Personen, um wieder Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden.

Je nach Alter und Situation werden in der Schweiz nach einer Kündigung zwischen 9 und 29 Monaten Taggelder bezahlt. Danach gilt eine arbeitslose Person als «ausgesteuert». Das trifft derzeit laut Beobachter auf monatlich 2500 bis 3000 Personen schweizweit zu. Wer nicht genügend eigenes Vermögen hat, erhält von der Sozialhilfe einen monatlichen Beitrag von etwa 950 Franken und lebt damit unter dem betreibungsrechtlichn Existenzminimum. Das gilt auch für Valentin Brechbühl*. Er verlor seinen Job als Buchhalter, als sein Arbeitgeber Konkurs anmelden musste. In der Folge musste der heute 59-Jährige, der eine kaufmännische Ausbildung vorzuweisen hat, lange auf Jobsuche gehen, fand aber nichts. «Ich dachte immer, mir müsse nach 50 Jahren niemand sagen, wann ich was tun müsse. Beispielsweise Zähne putzen oder Schlafen gehen», erinnert sich Brechbühl an seine Anfangszeit als Arbeitsloser. «Aber nach einer gewissen Zeit fehlen die Tagesstrukturen dennoch.» Valentin Brechbühl war deshalb froh, als er ein Aufgebot für das Reintegrationsprogramm erhielt. Dieses nennt sich «KIA» – Kommunales Integrations-Angebot – und wird vom Verein maxi.mumm angeboten. In unterschiedlichen Betrieben wie einer Velowerkstatt, einer Schreinerei oder auch für Dienstleistungen wie das Putzen, bekämpfen von Littering, das kontrollieren von Unterführungen oder andere Öffentlichkeitsarbeiten werden ausgesteuerte Personen engagiert und betreut. Ihnen wird damit eine Tagesstruktur geboten, ausserdem werden soziale Kontakte ermöglicht. All das bietet den Teilnehmenden Halt und vereinfacht, dank einem grossen Netzwerk von maxi.mumm, den Zugang zu psychischer oder auch physischer Hilfe im Alltag. Finanziell gesehen ist die Beschäftigung derweil nicht weiter lukrativ. Den Teilnehmern winkt ein «Zückerli» von 100 Franken monatlich.

Ordner mit Bewerbungen
Hin und wieder – im Jahr 2017 mehrere Male – gibt es zudem ganz spezielle Erfolgsmeldungen. «Manchmal finden Teilnehmer des Programms auch wieder eine Arbeitsstelle. Die Situation verändert sich und dann passt manchmal, was vorher nicht gelang.» Anderen geht es aber eher wie Valentin Brechbühl, der seit mittlerweile acht Jahren im Programm teilnimmt und keine Stelle findet. «Ich habe mehrere Ordner mit meinen Bewerbungen gefüllt. Das Antwortschreiben ist aber immer das gleiche. Als würden es die Betriebe kopieren», sagt der 59-Jährige enttäuscht. Aufgeben will er noch nicht. Wenn er eine Möglichkeit sieht, ruft er an und fragt, ob er die Bewerbung überhaupt senden soll und wie die Chancen stehen. Meist sind sie aber vernichtend klein und trotzdem vorhanden (siehe Kasten).
Frustrierend seien derweil nicht die Absagen an sich, sondern vielmehr die Tatsache, dass er bald pensioniert wird, aber kaum finanzielle Reserven besitzt. Wer ausgesteuert wird, muss zuerst das eigene Vermögen zum Leben aufbrauchen, bevor er Sozialhilfe erhält. In dieser Zeit vermindert sich nicht nur der Wert des eigenen Kontos und der eigenen Wertgegenstände – «was kaputt geht kann aus finanziellen Gründen nicht gleichwertig ersetzt werden» – vor allem aber schwinden auch die Reserven für die Pension. Sogar von der AHV gibt es weniger Geld, weil die Pension aus rechtlichen Gründen für ausgesteuerte Personen bereits mit 63 und nicht erst mit 65 beginnt. «Eigentlich habe ich nun 40 Jahre gearbeitet und habe dennoch nichts mehr», sagt Brechbühl. Auch deshalb würde er auch nach seiner Pensionierung nur zu gerne etwas arbeiten. «Vielleicht nicht gerade 100 Prozent, weil ich langsam aber sicher auch schon alt bin. Aber ich würde gerne arbeiten.»

28 Personen beschäftigt
So wie es Valentin Brechbühl geht, empfinden auch andere. Im Programm KIA beschäftigt maxi.mumm derzeit 28 Personen im Alter zwischen 20 und 63 Jahren und laut Betriebsleiter Jonathan Hirschi sind sie allesamt sehr motiviert und sehen einen Sinn in diesem Projekt. «Wir machen gute Erfahrungen mit unseren Teilnehmern. Und wer einen guten Eindruck hinterlässt, darf auch bleiben.» In einzelnen Fällen werden Teilnehmende in anderen Programmen eingesetzt, entsprechend den persönlichen Fähigkeiten. Nur wenige werden aus disziplinarischen Gründen nicht weiterbeschäftigt. «Unsere Erfolgsquote misst sich nicht daran, dass wir die Menschen in den Arbeitsmarkt reintegrieren. Es geht eher darum, ihnen soziale Stabilität zu bieten und das gelingt uns soweit gut.» Dafür wird auch viel Zeit in Gesprächen aufgewendet, die entweder er oder der zweite Betriebsleiter, Kurt Hüsler, führt.

Alle im selben Boot
Auch wegen dem positiven Betriebsklima und der vorgelebten gegenseitigen Hilfeleistung ist die Stimmung unter den Teilnehmenden gut. «Wir sitzen alle im selben Boot. Intrigen gibt es keine», sagt Valentin Brechbühl. Schliesslich sei er auch froh, hier zu sein, damit er überhaupt etwas arbeiten kann. «Man fühlt sich wertgeschätzt. Und ausserdem ist die Arbeit sehr vielfältig und abwechslungsreich, weil wir in unterschiedlichen Teilbereichen tätig sind.» Er als ehemaliger Buchhalter könne viele Arbeiten in Word, Excel und Co erledigen, hin und wieder springt er aber auch ein, wenn dies beim Velo-Hauslieferdienst, in der Werkstatt oder für sonstige Aufträge erforderlich ist.
Seine Flexibilität und sein breitgefächertes Interesse hat ihm zumindest auf dem Arbeitsmarkt nichts gebracht. Verantwortlich macht er dafür auch die heutige Wirtschaft, die nicht selten Ü-50ern kündet. «Es sollte eine Regel dagegen geben. Denn einen Job im Alter von 45 zu finden ist schon schwer. Danach ist es sehr schwierig.» Das störe ihn zweifellos. Wenn er nämlich in die Runde blickt, sieht er viel Potenzial. «Wir sind keine Glünggis, die man nicht gebrauchen kann», sagt Valentin Brechbühl, während Betriebsleiter Jonathan Hirschi nickt. Das Image von Langzeitarbeitslosen sei aber so schlecht, dass kaum Chancen auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt bestehen. «Eigentlich müsste das möglich sein», sagt er ruhig und verzehrt dann seine Mimik zu einem resignierenden Eindruck.

Umdenken muss stattfinden
Auch für Jonathan Hirschi ist klar, dass in der Wirtschaft früher oder später ein Umdenken stattfinden muss. Gestartet hat das Projekt «KIA» im Jahr 2010 mit einem minimalen Budget und mit wenigen Plätzen in Roggwil, mittlerweile gehört dieses Projekt zu den wachstumsstärksten Teilen des gesamten Vereins maxi.mumm.
«Ich würde ihn im Büro einstellen, keine Frage», sagt Hirschi über Brechbühl, hängt aber auch an, dass ihm die Situation bewusst ist: «Ich habe früher auf dem Bau gearbeitet. Ich kenne die Einstellung gegenüber Langzeitarbeitslosen. Und dennoch zeigen einzelne Beispiele, dass es sehr wohl möglich ist, dass solche Personen den Anschluss an die Wirtschaft wiederfinden.» Und bis dahin finden sie im maxi.mumm mit ausgebildeten Betriebsleitern entsprechende Betreuung und einen Arbeitsalltag mit einem betriebswirtschaftlich sinnvollen Output. Produkte wie restaurierte Möbel, Kork-Kunstwerke oder auch sogenannte Grill-Taschen werden nämlich im Laden an der Bahnhofstrasse 37 in Langenthal verkauft, daneben werden gerade für die Stadt Langenthal zahlreiche Dienstleistungen angeboten. «Es gibt viele, die hier einen Sinn sehen», ist sich auch Jonathan Hirschi sicher. Auch wenn dieser in erster Linie der Beschäftigung und nicht der Reintegration gilt, so kann mit dieser Institution immerhin eine schwierige Zeit – egal wie lange sie dauert – sinnvoll überbrückt werden.

* Name geändert

Von Leroy Ryser