Berlusconi und seine Verbindung zum Oberaargau
Im Zweiten Weltkrieg waren in Eriswil jüdische Flüchtlinge und Internierte aus Polen und vor allem aus Italien einquartiert. Unter ihnen befand sich auch ein gewisser Luigi Berlusconi, der Vater des reichen italienischen Geschäftsmannes und zeitweiligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Die Spurensuche mit Zeitzeugen hatte vor fünf Jahren der Maturand Oliver Linow aus Herrliberg aufgenommen, dessen Wurzeln in Eriswil gründeten. Dem Zeitdokument und seinem jungen Leben folgte 2018 eine traurige Wende.
Eriswil · «Die Beziehung zwischen den Internierten und der Schweizer Bevölkerung war sehr gut, weil beide aufeinander angewiesen waren. Die Schweizer brauchten Arbeitskräfte, weil viele Männer an der Grenze waren. Die Internierten hatten in der Schweiz überhaupt nichts und waren zum Überleben auf die Bevölkerung angewiesen.» Es ist das Thema der Dissertationsarbeit aus dem Jahr 2015 des Maturanden Oliver Linow aus Herrliberg.
Wie aber kam der junge Mann auf die Idee, ausgerechnet in Eriswil zu recherchieren? Es sind seine Wurzeln, die Oliver Linow hierhergeführt hatten, insbesondere seine Grossmutter Rosmarie Heiniger (1926–2015), die später in Herrliberg lebte. Deren Vater war in jener schwierigen Zeit der Kriegsjahre Gemeindeschreiber in Eriswil. Und ebenfalls in jener Zeit absolvierte die Eriswilerin Margrit Kleeb (1925) in der Gemeindeschreiberei ihre kaufmännische Ausbildung, heute die älteste Eriswilerin, die dort auch ihre Kinder- und Jugendzeit verbracht hatte. Sie gehörte zu einer der Drehscheiben, welche den Bauern Internierte vermittelte oder den Internierten eben die Arbeitseinsätze. Denn viele Schweizer Männer standen damals an der Grenze, um das Land zu beschützen. In der Landwirtschaft, aber auch in Handwerksbetrieben herrschte bitterer Mangel an Arbeitskräften.
Vier Zeitzeuginnen
Es war die rüstige 95-Jährige, welche dem «Unter-Emmentaler» die Dissertationsarbeit von Oliver Linow vermittelt hat. Weitere Interviewpartner des Maturanden waren Ida Frauchiger (1932) aus Eriswil – bei ihren Eltern waren ebenfalls Internierte untergebracht –, Trudi Schärer (1920–2020), die Tochter des damaligen Oberstufen-Lehrers und Michele Pracchi (1955), Sohn eines damaligen Internierten und heute wohnhaft in Genf. Zudem benutzte Oliver Linow für seine Arbeit schriftliche Quellen wie das Archiv des «Unter-Emmentaler» und weitere.
Die Schweiz war nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg verwickelt, aber ringsherum von kriegsführenden Mächten umgeben. General Henry Guisan bot zweimal zu einer Generalmobilmachung auf. Das Ziel des Landes war es jedoch, möglichst unabhängig zu sein und deshalb auch möglichst wenige Flüchtlinge aufzunehmen. Viele unter ihnen waren militärische Flüchtlinge, zu deren Aufnahme die Schweiz durch das internationale Abkommen verpflichtet war.
Gästezimmer anstatt Strohlager
Im oberen Langetental waren es insbesondere Italiener und Polen, die hier interniert waren. Unter ihnen ein gewisser Luigi Berlusconi, dessen Sohn (Silvio Berlusconi wurde 1936 geboren) später über lange Zeit hinweg das Geschick Italiens prägen sollte. Trudi Schärer – sie lebte zuletzt im Altersheim Rüttihubelbad, Walkringen –, eine der Interviewpartnerinnen von Oliver Linow, kannte Luigi Berlusconi gut. Bei ihren Eltern lebten zwar keine Internierten, doch Luigi Berlusconi war öfter bei ihrer Familie zu Besuch und übernachtete manchmal auch dort. Das war aber nur während der Woche möglich, denn Trudi Schärer war Lehrerin im Hornbach und kam Samstag und Sonntag nach Hause.
Luigi Berlusconi genoss es, wenn er in Trudi Schärers Zimmer schlafen konnte, war er doch sonst auf einem Strohlager einquartiert. Er sei in der Familie Schärer freundschaftlich aufgenommen worden und habe sich auch so benommen, hatte Trudi Schärer dem Maturanden zu Protokoll gegeben.
Umstritten
Der Italiener selbst schrieb später Geschichte – nicht nur sein noch viel berühmterer Sohn Silvio. Luigi Berlusconi war zuerst Angestellter, später Direktor der stark umstrittenen Banka Rasini. Hauptgrund der Berühmtheit der Bank war ihre tiefe Verstrickung mit der Cosa Nostra und mit führenden Männern der sizilianischen Mafia wie eben auch mit Luigi und später dessen Sohn Silvio Berlusconi.
Aber zurück zu den Internierten in Eriswil. Die Bevölkerung habe mit ihnen in den meisten Fällen ein ausgezeichnetes Verhältnis gehabt, erinnert sich Margrit Kleeb im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler».
Dankbar, sich nützlich zu machen
Die Polen und Italiener waren bescheiden, fleissig und dankbar, dass sie ein Dach über dem Kopf, zu Essen und Arbeit hatten. Insbesondere die Italiener, bei denen es sich nicht selten um einfache Soldaten gehandelt hatte, die vor Mussolini geflüchtet respektive desertiert waren. Die Polen seien in der Regel von Offizieren ihrer Armee begleitet gewesen. Die jüdischen Flüchtlinge, Frauen mit Kindern, ältere Ehepaare, waren anders. «Di Jude si ‹besseri› Lüt gsi», blickt sie zurück. Während sich die Italiener mit Strohlagern begnügt hätten, habe man für sie Privatzimmer suchen müssen. Dennoch, auch diese seien dankbar gewesen, sich nützlich zu machen und nicht Hunger leiden zu müssen.
Gut zu den Internierten
«D Eriswiler si gäng guet gsi zu de Internierte», blickt Margrit Kleeb zurück, die in der damaligen «Chäshütte» aufgewachsen war. Freundschaften seien weit über die Kriegszeit hinaus bestehen geblieben. So etwa mit Pino und Franco Pracchi (Vater, respektive Onkel des Interviewpartners Michele Pracchi). Zwischen ihnen und ihrer Familie hätten später gegenseitige Besuche stattgefunden.
Wertvolles Dokument für die Nachwelt
Oliver Linow hat den Seinen und seiner Nachwelt ein gut recherchiertes, lebhaft erzähltes, fast 100-seitiges Dokument mit vielen geschichtlichen Angaben aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, insbesondere aus jener Zeit in Eriswil, hinterlassen. Im Alter von nur 21 Jahren ist der lebensfrohe junge Mann, der es sich so sehr gewünscht hatte, Lokal- und Sportjournalist zu werden, im Herbst 2018 an Leukämie gestorben. Kurz vorher hatte er mehrere seiner Ziele erreicht: Wenige Monate lang war er Praktikant beim Onlineportal Watson und hatte 2016 seine erste Stelle bei der Lokalzeitung «Küsnachter» angetreten. Dazu folgte die Diplomausbildung am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern. Die schwere Krankheit hat das Leben des sportlichen, kameradschaftlichen und mit vielen Fähigkeiten begnadeten jungen Mannes jäh beendet.
Von Liselotte Jost-Zürcher