• Der kleine Lord Fauntleroy alias Cedric Errol (Isabel Kott) mit seinem Grossvater, Graf Dorincourt (Pavel Fieber). Die Beiden eroberten die Herzen des Publikums im Nu. · Bild: Hans Mathys

29.12.2017
Langenthal

Berührender Aufruf zu mehr Menschlichkeit

Reto Lang, Direktor des Stadttheaters Langenthal, hätte dem Publikum als erste Aufführung nach der Renovation kaum eine schönere Geschichte präsentieren können als den zeitlosen Weihnachtsklassiker «Der kleine Lord».

 

«Der kleine Lord», geschrieben von der in die USA ausgewanderten britischen Autorin Frances Hodgson Burnett (1849 bis 1924), ist zeitlos und wird seit 1982 auf dem Sender ARD jeweils kurz vor Weihnachten ausgestrahlt. Bis vor kurzem spielte bei der Produktion der «a.gon Theater GmbH München» Gunnar Möller den grimmigen Grafen Dorincourt. Möller warb im Film von 1955 «Ich denke oft an Piroschka» als verliebter Student Andreas um die Gunst von Piroschka (Liselotte Pulver). Am 16. Mai dieses Jahres verstarb er 88-jährig.
Strahlend begrüsst Langenthals Stadtpräsident Reto Müller das erwartungsfrohe, 294-köpfige Publikum im Stadttheater und blickt zurück auf die Eröffnung «vor genau 101 Jahren und 9 Tagen» mit dem Festspiel «Die Ruinen von Athen», komponiert von Ludwig van Beethoven. Die Kinder seien nicht nur unsere Zukunft, sondern auch unsere Gegenwart, betont der Stapi. Er beweist dies, indem er gemeinsam mit seinem Sohn Yuri Andrin (2014) auf der Bühne steht und der Knirps zum allgemeinen Entzücken sagt: «Hallo mitenang. Schön sit dir do.» Für Reto Müller ist der Start mit «Der kleine Lord» ein «historisches Ereignis». Er zeigt sich – mit Blick Richtung Saal und Galerie – erleichtert, dass nach «zögerlichen Reservationen» jetzt drei von vier Stühlen besetzt sind.

Arm, aber glücklich
Nun legt das Ensemble aus München los, dass es eine wahre Freude ist – und baut sogar den Namen Langenthal in eine Szene ein. Das stimmige Bühnenbild entführt das Publikum aber nicht in die Stadt an der Langete, sondern nach New York im 19. Jahrhundert – belebt von Krämern, Marktfrauen und einem Schuhputzer. Trotz herrschender Armut ist hier gute Laune angesagt. Dazu trägt auch der fröhliche Junge Cedric Errol (Isabel Kott) bei, der hier in bescheidenen Verhältnissen bei seiner Mutter (Tanja Maria Froidl) aufwächst.
«Wir nehmen die Welt wie sie ist», wird schon mal ein Lied angestimmt, das verrät, dass sich die Leute hier aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz nicht unterkriegen lassen. Cedric Errol wird von seinen Freunden schon mal als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gehandelt – primär von Mr. Hobbs (Matthias Graf), der nicht gut auf die Engländer zu sprechen ist und der nicht verstehen kann, dass dort die Aristokraten mehr Rechte als andere haben. Aber eigentlich ist auch Frohnatur Cedric Errol ein Engländer. Er war sehr klein, als sein Vater starb.

Ehrenwerter Besuch aus England
Jetzt meldet sich hier in New York ehrenwerter Besuch aus England an: Mr. Havisham (Michael Müller). Dieser stellt sich bei Cedric Errols Mutter als Rechtsanwalt des Schwiegervaters vor. «Ich habe Botschaften für Sie persönlich», erklärt er ihr. Damit diese wirklich geheim bleiben, schirmt Mr. Havisham – «very british» – mit seinem schwarzen Schirm allfällig Lauschende ab. Mr. Havisham überzeugt Mrs. Errol, dass sie mit ihrem Sohn Cedric nach England reist, wo Cedrics mürrischer und hartherziger Grossvater – er ist ein Dickschädel – seinen Enkel zum Erben in seinem Geiste machen will – zum kleinen Lord Fauntleroy.

Grossvaters harte Schale
Cedric knackt auf dem Schloss im Nu die harte Schale seines Grossvaters, dem Grafen Dorincourt (Pavel Fieber) und entlockt diesem zuvor nie gezeigte Wesenszüge wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Grossherzigkeit. «Der kleine Lord» ist gespickt von rührenden Szenen. So, als Cedric seinem Grossvater eine gute Nacht wünscht und diesem zu dessen Verblüffung einen herzhaften Kuss auf die Wange drückt – oder als Cedric im Beisein des Grossvaters die Bittsteller auf dessen Schloss empfängt, deren Anliegen und Beschwerden entgegen nimmt und sehr grosszügig handelt. «Du  hast einen tollen Beruf», sagt Cedric zu seinem vermögenden Grossvater und erntet Szenenapplaus des gerührten Publikums. Ein wahrer Genuss, was die acht Darsteller (in zwölf Rollen) und die vier Musiker (mit sieben Instrumenten) bieten.

Das Happy End naht
Ein Höhepunkt ist auch, als Cedric vom Schloss in England aus seinen Freunden in New York liebevoll einen Brief schreibt: «Lieber Mr. Hobbs, lieber Dick! Dies ist eine Einladung. Meine Tante und mein Grossvater wollen im Schloss an Weihnachten ein Fest geben. Sie haben gesagt, ich soll meine besten Freunde dazu einladen. Hier gibt es so viele Zimmer, dass Ihr Euch welche aussuchen könnt. Ihr dürft auch bleiben, solange Ihr wollt. Mein Grossvater ist der beste der Welt. Ich habe hier ein eigenes Pony und alles, was ich brauche. Nur Ihr fehlt mir. Kommt so schnell es geht nach England. Euer Freund Cedric.»
Zusehends näher kommen sich Mr. Havisham und Cedrics Mutter, die zusammen das Lied «Ob ich’s wagen darf?» singen. Eine Bereicherung ist auch Cedrics Grosstante Henriette (Renate Koehler). Dass Cedric der rechtmässige Erbe und damit Lord Fauntleroy ist, wird von Polly Errol (Eva Patricia Klosowski)– toll ihr fulminanter Auftritt im Schloss – in Frage gestellt. Das Happy End aber naht. «Heute ist der glücklichste Tag in meinem Leben», verkündet Cedrics Grossvater, Graf Dorincourt.
«Welch eine wunderbare Inszenierung», wird sich – wohl ausnahmslos – das ältere wie auch das jüngere Publikum auf dem Nachhauseweg gesagt haben.

Von Hans Mathys