Bettina Isenschmid: «Es gab zu wenig ambulante Anlaufstellen und Behandlungsplätze»
Übergewicht und Untergewicht infolge Essstörungen sind weit verbreitet und ein immer grösser werdendes Problem in der Gesellschaft. Immer mehr Menschen suchen und brauchen Hilfe, um ihr Ess-Problem in den Griff zu bekommen, doch Anlaufstellen gab es in der Region zu wenige. Bettina Isenschmid hat das Zentrum für Essstörungen und Adipositas (ZESA) in Langenthal ins Leben gerufen. Der «Unter-Emmentaler» hat mit ihr über die Beweggründe und die Tücken einer Essstörung gesprochen.
Langenthal· Bettina Isenschmid, Sie haben das Zentrum für Essstörungen und Adipositas in Langenthal ins Leben gerufen, warum?
Das hat sowohl berufliche wie persönliche Gründe: Seit 25 Jahren führe ich eine kleine Privatpraxis in Aarwangen bei Langenthal und behandle dort vorwiegend Essstörungen. Dabei wurde immer wieder klar, dass es zu wenig ambulante Anlaufstellen und Behandlungsplätze gab. Hilfesuchende Patientinnen müssen daher mehrmonatige Wartezeiten in Kauf nehmen. Zudem wusste ich, dass es am SRO in Langenthal zwar ein Adipositaszentrum gab, der Teil Essstörungen und hier insbesondere der psychiatrisch-psychotherapeutische Bereich aber nicht ausreichend abgedeckt war. Da ich seit einigen Jahren wieder im Oberaargau, genauer in Graben, wohnhaft bin, habe ich mich dann dazu entschlossen, von meiner vorherigen Stelle am Spital Zofingen ans SRO Langenthal zu wechseln. Zum Glück konnte mich ein Teil meines Teams auf diesem Weg begleiten, sodass wir sehr rasch einsatzfähig waren.
Was sind Ihre Erfahrungen bezüglich solcher Zentren?
Ich hatte das Glück, die erste Spezialsprechstunde für Essstörungen in der Deutschschweiz, genauer am Inselspital Bern, aufbauen zu dürfen. Später kam es dann zur Fusion mit der Adipositassprechstunde und so zur Zentrumsgründung. Ein analoges Zentrum konnte ich Jahre später am Spital Zofingen ins Leben rufen und massgeblich ausbauen. Wir hatten bereits dort sehr viele Patentinnen aus dem Kanton Bern und angrenzenden Kantonsteilen. Essstörungen und Adipositas sind komplexe psychosomatische Krankheitsbilder und bedürfen daher einer integrativen und multiprofessionellen Behandlung, wie diese eben an einem Kompetenzzentrum angeboten werden kann. Nicht eine Therapeutin oder Fachrichtung alleine kümmert sich um die Betroffenen, sondern viele Fachbereiche miteinander. Dazu gehören Innere Medizin und Psychiatrie, Psychologie, Ernährungsberatung, Bewegungs- und Körpertherapie sowie auch die Chirurgie. Dazu kommen das Sekretariat und die Pflege.
Warum widmen Sie sich genau diesem Bereich?
Glücklicherweise habe ich selber nie an einer Essstörung gelitten, doch als Mädchen und junge Frau habe ich einige Jahre Klassisches Ballett gemacht und dort viele abgemagerte Tänzerinnen erlebt, die versuchten, durch striktes Fasten einen noch idealeren Körper zu erreichen. Das war meine erste Begegnung mit Essstörungen. Später, bereits als junge Mutter, habe ich in einem wissenschaftlichen Projekt die frauenspezifischen Ursachen für Sucht und Abhängigkeit untersucht, dort habe ich mich dann stärker für die Gründe von Magersucht und Bulimie interessiert. Ernährung fand ich schon immer ein extrem spannendes Gebiet und so entschloss ich mich dazu, mich als Psychiaterin und Psychosomatikerin in diesem Bereich intensiv zu engagieren.
Ist Übergewicht ein grosses Problem?
Wenn wir davon ausgehen, dass in der Schweiz jeder zweite Erwachsene und jedes fünfte Kind übergewichtig sind, dann ist das wirklich ein grosses Problem. Die Kombination aus einem Überangebot beim Essen, zu wenig körperliche Aktivität und der Tatsache, dass Essen gut schmeckt und nicht nur den Hunger stillt, sondern auch bei vielen belastenden Gefühlen wie Angst, Trauer, Ärger oder Einsamkeit hilft, hat in unserer Gesellschaft dazu geführt. Immer noch wird in unserer Gesellschaft Essen als Belohnung oder Essensentzug als Bestrafung verwendet.
Was müsste von der Gesellschaft her geändert werden? Was könnte die Regierung dagegen tun?
Ganz wichtig ist es, dass neben dem Essen oder dem Fasten auch andere Formen der Gefühlsbewältigung erworben werden können. Wenn ein Kind weint, heisst das nicht automatisch, dass es auch hungrig ist, vielleicht braucht es auch Zuwendung, Trost, ein Gespräch oder auch nur etwas Ablenkung. Die Prävention von Essstörungen und Übergewicht fängt also schon im Säuglingsalter an. Die an Kinder gerichtete Werbung für Esswaren sowie die Idealbilder in den sozialen Medien müssen hinterfragt und limitiert werden, junge Menschen müssen dazu befähigt werden, kritische Konsumenten zu sein und nicht einfach alles zu glauben. Wir dürfen Menschen nicht auf ihr äusseres Erscheinungsbild, auf Figur und Kleidergrösse reduzieren, Selbstwert, Diversität und gute Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen, sind viel wichtiger und nachhaltiger. In allen Bereichen der Gesellschaft sollte dies gelebt werden. Gerade in der Corona-Pandemie haben wir einen besorgniserregenden Anstieg von psychischen Leiden gesehen und auch realisiert, dass es nicht genügend Behandlungsangebote gibt. Hier sind die Politik und das Gesundheitswesen gefordert.
Wie entwickelt sich eine Essstörung?
Jeder Mensch braucht Methoden, wie er sich bei belastenden Gefühlen helfen kann, gerade in der Pubertät mit den zahlreichen körperlichen und seelischen Veränderungen kommt es zu einer tiefgreifenden Verunsicherung: Wer bin ich und wohin will ich, bin ich interessant und attraktiv genug? Wie kann ich mich gegenüber anderen abgrenzen und behaupten? Wie kann ich mir Halt und Sicherheit geben in dieser stürmischen Zeit? Viele Jugendliche beginnen dann ganz stark, an sich und ihrem Körper zu zweifeln, angeheizt auch durch die Idealbilder und die omnipräsenten Vergleiche in den Medien. Mit Diät und Sport soll der Körper in Form gebracht werden, oder durch starkes Abmagern soll auf eine innere Not, die zunächst nicht in Worte gefasst werden kann, aufmerksam gemacht werden. Der Verzicht auf Nahrung löst automatisch ein stärkeres Verlangen aus, was recht bald auch zu Heisshungerattacken mit massiven Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen und nachfolgendem Erbrechen führen kann. Bereits nach wenigen Wochen kann das «Diäten» und Trainieren süchtige Ausmasse annehmen und schliesslich so in eine veritable Essstörung münden. Die verschiedenen Formen wir Magersucht, Bulimie oder «Binge Eating»-Störung (wiederkehrenden Essanfällen), die zu Übergewicht führt, können dabei auch ineinander übergehen. Übergewicht besteht ab einem BMI von 26 kg/m2, Adipositas ab 30 kg/m2.
Was für Menschen kommen zu Ihnen?
Zu uns kommen Mensch ab etwa zehn Jahren bis ins Seniorenalter. Sie melden sich selber an oder werden von Angehörigen, Haus- und Fachärzten sowie verschiedenen Anlaufstellen zugewiesen. Wir betreuen auch Patienten, die sich einem adipositaschirurgischen Eingriff unterzogen haben.
Haben diese bereits einen jahrelangen Leidensweg hinter sich?
Meist sind sie leider bereits einige Monate bis sogar Jahre oder fast ein ganzes Leben erkrankt, oft ohne viel Hoffnung, dass sich nochmals etwas ändern könnte. Durch die Arbeit in der Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit versuchen wir, die Betroffenen zu ermuntern, sich möglichst frühzeitig zu melden. Denn je früher eine Behandlung einsetzt, desto besser die Erfolgschancen. Wenn bereits viele Jahre vergangen sind und sich die Krankheit in allen Lebensbereichen festgesetzt hat und schon viele körperliche und psychische Folgeerkrankungen da sind, ist eine Heilung leider kaum mehr möglich. In dieser Gruppe kommt es auch zu den meisten Todesfällen. Trotzdem gibt es auch bei langem Verlauf noch die Möglichkeit zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Unterstützung der Angehörigen.
Wie lange dauert eine Therapie?
Unsere Therapie sind auf eine Dauer von primär zwei Jahren angelegt, da jede Verhaltensänderung viel Zeit braucht. Meist dauern die Therapien jedoch länger, da neben der Essstörung an sich auch andere Lebensbereiche wie Familie, Beziehung, Ausbildung und Arbeit thematisiert werden müssen. Und wie bereits erwähnt, es sind immer mehrere Fachbereiche und -personen beteiligt und die körperliche Gesundheit wird genau so berücksichtigt wie die psychische.
Was sind die grössten Herausforderungen?
Oft bestehen anfangs Widerstände gegen die Therapie, vor allem, wenn sie nicht wirklich auf eigenen Wunsch beginnt. Magersüchtige haben grosse Angst vor der Gewichtszunahme und wollen die Sicherheit, die ihnen das Fasten und das Untergewicht gibt, nicht einfach so preisgeben. Demgegenüber haben die Eltern natürlich grosse Angst, ihr Kind würde nie mehr gesund werden oder gar verhungern. Es braucht bei jeder Essstörung viel Geduld und Verständnis, dass jedes Verhalten für Betroffene eine sinnvolle Funktion hat, auch wenn es von aussen nicht so aussieht. Und esssüchtige Menschen müssen lernen, dass sie ihre Gefühle anders bewältigen können als mit Süssigkeiten und Snacks. Mehr Bewegung, um die Gewichtsabnahme zu unterstützen, ist für adipöse Menschen eine riesige Herausforderung, bei der sie Hilfe brauchen.
Was ist das meist gesuchte Ziel der Patienten (Gewichtsverlust/Lebensqualität/Befreiung aus der Sucht)?
Alle drei Ziele werden genannt, Übergewichtige wollen primär abnehmen, dabei wird dann oft erst klar, wozu das Essen alles dient und dass es Alternativen dazu braucht. Ein gesundes Gewicht ist bestimmt mit einer besseren Lebensqualität und Gesundheit verbunden, dies spielt bei allen Essstörungen eine grosse Rolle. Bei der Bulimie und dem «Binge Eating» ist oft das Thema Sucht schon da, die Betroffenen erleben sich als beherrscht von ihrem Essdrang und erleben aber einen ständigen Wiederholungszwang.
Mit welchen Erwartungen kommen die Patienten zu Ihnen? Soll es aus Sicht der Patienten einfach nur schnell gehen?
Natürlich kommen die Patienten mit der Erwartung zu uns, dass es ihnen schnell besser gehen soll, manchmal erschrecken sie zu Beginn, wenn wir ihnen sagen, dass es Monate oder meist Jahre braucht, doch bereits nach kurzer Zeit erkennen sie selber, dass sie Geduld haben und dranbleiben müssen, um nachhaltigen Erfolg zu haben. Ansonsten gibt es ja einfach nur wieder die x-te Diät, das x-te Fitnessabo, wieder mal auf die Zähne beissen und sich nichts mehr gönnen, das führt nie zum Ziel.
Was wünschen sich Menschen mit Essstörungen?
Sie wünschen sich vor allem, ernst genommen zu werden, auch wenn sie sich für ihr Verhalten oft schämen. Oft wirkt dieses für andere befremdlich und unverständlich und kann auch Aggressionen oder Ablehnung auslösen. In diesen Situationen benötigen sie ein respektvolles und einfühlsames Gespräch sowie viel Geduld – auch mit sich selbst –, um die erforderlichen Verhaltensänderung aufbauen, in ihr Alltagsleben zu integrieren und langfristig durchhalten zu können. Auch Angehörige brauchen viel Unterstützung, da sie sich ob der Erkrankung der Betroffenen häufig hilflos und ohnmächtig fühlen.
Wer kann zu Ihnen kommen?
Zu uns können alle Menschen kommen, die ein Problem mit dem Essen und/oder dem Gewicht haben. Falls sie in einem Hausarztmodell oder Managed Care Modell versichert sind, benötigen wir eine ärztliche Zuweisung. Aber auch sonst ist uns die Zusammenarbeit mit den Haus- und Kinderärzten sowie anderen beteiligten Fachstellen ein ganz grosses Anliegen. Wir bieten nur ambulante Behandlungen an, sollte eine Klinikeinweisung nötig sein, arbeiten wir vor allem mit der Klinik Wysshölzli in Herzogenbuchsee und mit anderen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in unserem Einzugsgebiet zusammen.
Kann man auch ein erstes beratendes Gespräch bei Ihnen führen, ohne in ein Programm einzusteigen?
Sicher, wir bieten zunächst ein Erstgespräch an. Dabei wird mit dem Patienten zusammen besprochen, wo sein Leidensdruck ist und was er braucht. Erst danach planen wir die weiteren Behandlungstermine. Die Behandlungen sind Pflichtleistungen und werden von Krankenkassen abzüglich des Selbstbehalts und der Franchise übernommen. Unser Team umfasst derzeit 12 bis 14 Personen aus den verschiedenen anfangs erwähnten Fachbereichen.
Was sagen Sie zur Formel: Körpergrösse minus 100 = ideales oder gutes Gewicht?
Von dieser Formel sind wir schon länger abgekommen, auch der Begriff des Idealgewichts ist nicht mehr zeitgemäss. Die Gewichtsklasse, wenn man so will, wird mit dem BMI (Body-Mass-Index) bestimmt, welcher sich so berechnet: Körpergewicht in Kilogramm/Körpergrösse in Metern im Quadrat (kg/m2). Für Menschen, die sich noch im Wachstum befinden, gibt es altersangepasste Werte, sogenannte Perzentilenkurven. Heute sprechen wir von Gewichtsbereichen und sind uns bewusst, dass nicht nur das Gewicht über Gesundheit oder Krankheit bestimmt. Wichtig sind auch der Körperbau und die Körperzusammensetzung, bei der Adipositas messen wir daher auch den Bauch- und Hüftumfang. Adipositas besteht wie oben erwähnt ab BMI 30 kg/m2, Übergewicht ab 26 kg/m2, Normalgewicht zwischen 18 und 25 kg/m2, Untergewicht unter 18 kg/m2.
Wie sehen Sie die Zukunft bezüglich Essstörungen? Nehmen Sie zu? Sind die Zahlen bedenklich?
Die Häufigkeit der Magersucht hat sich, soweit wir wissen, nicht bedeutend verändert, jedoch treten die Bulimie und die «Binge Eating»-Störung häufiger auf. Es sind auch vermehrt Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen von verschiedenen Essstörungen betroffen. Da die Übergewichtigkeit in der Bevölkerung stark verbreitet ist, sehen wir auch immer mehr damit verbundene Probleme des Essverhaltens.
Haben Sie bereits viele Patienten in ZESA? Ist der «Ansturm» gross?
Ja, gegenwärtig sind wir bis Ende des Jahres eigentlich ausgebucht, für dringende Fälle versuchen wir aber trotzdem, eine rasche Abklärung zu ermöglichen. Oft kann schon ein einzelnes Gespräch, in dem sich die Betroffenen aber akzeptiert fühlen, wieder Zuversicht bewirken.
Haben Sie genug Kapazität für die nächsten Jahre?
Wir müssen mit der Nachfrage sicher Schritt halten, indem wir genügend Fachpersonen aus Medizin und Psychologie zur Verfügung haben, da müssen wir immer vorausschauend planen. Zurzeit sind wir gut aufgestellt, aber auch wir spüren den Fachkräftemangel.
Marianne Ruch im Gespräch mit Bettina Isenschmid, Chefärztin ZESA – Zentrum für Essstörungen und Adipositas, Langenthal