Claudius Uehlinger: «Ich bin ein Fan der Kombination von Schul-und Alternativmedizin»
Dr. med. Claudius Uehlinger ist Schulmediziner und seit 26 Jahren Hausarzt mit eigener Praxis in Wasen. Der «UE» hat ihn zum Abschluss der Serie «Alternative Heilmethoden» zu seiner Meinung bezüglich alternativen Therapieformen befragt. Auch ein grosses Thema: Der Hausärztemangel. Hier sieht Dr. Uehlinger vor allem die heutige Arbeitsweise und Wünsche der jungen Ärzte als Problem. – Dennoch blickt er positiv in die Zukunft und glaubt, dass es in Zukunft wieder mehr Hausärzte geben könnte.
Wasen · Marianne Ruch im Gespräch mit Dr. Claudius Uehlinger, Hausarzt in Wasen i. E.
Herr Uehlinger, Sie sind Schulmediziner. Was halten Sie von alternativen Heilmethoden?
Als erstes muss ich hierzu sagen, alternative Methode ist für mich nicht das richtige Wort. Das klingt immer so, als gebe es nur das eine oder das andere. Ich bin überzeugt von komplementären Möglichkeiten, das heisst, das eine tun und das andere nicht lassen. Es darf ja ausprobiert werden. Aber ich finde alternative Methoden zur Schulmedizin gut. Man muss aber unterscheiden zwischen einer richtigen Aus-bildung und sogenannten Wochenendkursen. Es gibt sehr viel Therapien, die den Nutzen erbracht haben wie zum Beispiel die Osteopathie, TCM oder die Neuraltherapie. Ich sage immer, viele Wege führen nach Rom.
Sie sprechen sehr positiv von diesen «alternativen» oder «anderen Methoden». Warum haben Sie denn Schulmedizin studiert?
Weil ich mir das Grundwissen über die Anatomie und den verschiedenen Krankheitsbildern als Basis aneignen wollte. Denn ich denke, erst mit der Zeit und der Erfahrung merkt und spürt man, dass es auch noch andere Wege gibt, die zu einem ähnlichen Resultat führen können wie die Schulmedizin.
Also unterstützen Sie die Kombination von Schulmedizin und alternativen Methoden?
Ja, absolut. Für mich ist es wichtig, dass meine Patienten mir sagen dürfen, wenn sie etwas anderes ausprobieren wollen oder probiert haben. Ich bin offen und suche zusammen mit dem Patienten den besten Weg. Ob dies nun die Schulmedizin, eine andere Therapieform oder beides ist, spielt für mich eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass es dem Patienten besser geht, er zufrieden ist und wir die Kosten im Griff halten können.
Etwa von der Homöopathie liest man immer wieder von erstaunlichen Resultaten – was halten Sie von solchen Berichten?
Mit der Homöopathie habe ich persönlich etwas mehr Mühe, denn ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie die Arznei wirken kann, wenn sie dermassen verdünnt ist. Ich stelle mir hier immer ein Schwimmbad voll Wasser mit wenigen Tropfen einer Essenz vor – wie soll das rein physikalisch nützen? Aber ich sage den Patienten nicht, sie sollen es nicht ausprobieren. Ich vermute hier lediglich eher den Placeboeffekt. Denn ich kann es nicht messen und es ist nicht wissenschaftlich fundiert. In der Schulmedizin werden der Effekt, die Wirksamkeit und der Nutzen untersucht und mit Studien dokumentiert. Das fehlt beispielsweise bei der Homöopathie. Somit ist es für mich nicht ganz nachvollziehbar und messbar. Zum Beispiel bei einer klar nachgewiesenen Allergie mit potenziellem Schaden, beispielsweise einer Insektenstichallergie, habe ich Bedenken, dass die Homöopathie wirklich wirken soll. (Anmerkung Redaktion: Placebo beschreibt ein «Medikament», das, ohne dass der Patient es weiss, keine Wirkstoffe enthält und die Wirkung «Einbildung» ist.)
Ebenfalls TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) erreicht erstaunliche Resultate – was halten Sie davon?
TCM ist mir dann schon wieder etwas näher. Etwa Akupunktur und Akupressur sind über Jahrzehnte und Jahrhunderte erprobt und ich sehe hier bei meinen Patienten oftmals erstaunliche Resultate. Gerade bei Kopfschmerzen, zum Beispiel Migräne oder Spannungskopfschmerzen, kann man mit Entspannungsübungen, Akupunktur, Osteopathie und vielen anderen Therapieformen viel erreichen. Oft ist es aber so, dass es bei einem Patienten funktioniert und beim anderen nicht. Ausprobieren kann man immer. Aber auch hier – es ist nicht immer objektiv messbar. Dennoch ist es für viele ein guter Eckpfeiler und hilft ihnen sehr.
Sie sagen, bei einem Patienten funktioniert es, beim anderen jedoch nicht. Ist es bei der Schulmedizin und «künstlichen» Medikamenten nicht das Gleiche?
Oh doch, natürlich. Nicht jedes Medikament wirkt bei jedem Patienten – auch hier muss ausprobiert werden, was hilft und was nicht. Hier sage ich immer, es gibt diese sogenannte «Drittel-Regel»: Bei einem Drittel hilft es, bei einem Drittel zeigt es wenig bis keine Wirkung, und bei einem Drittel wirkt es schlechter oder schadet ihm sogar.
Ein allergiegeplagtes Kind: Ist es nicht besser oder schonender, mit Kügelchen, Kräutern oder Nadeln zu behandeln als mit Kortison?
Es gibt ja nicht nur das sogenannte Kortison, sondern noch viele andere Therapie-Möglichkeiten. Eine Allergie oder Krankheit, die nicht potenziell tödlich ist, kann man auf verschiedene Arten zu behandeln versuchen. Ein Beispiel hierfür ist etwa ein von Asthma geplagtes Kind: Warum hat es eher einen Asthmaanfall am Abend, wenn das Mami nicht zu Hause ist? Oftmals spielt eine psychische respektive psychosomatische Problematik eine wichtige Rolle, hier reicht nicht einfach Kortison oder ein Kügelchen. Hinter allem steht immer auch eine Psyche und die kann man mit vielen verschiedenen Sachen beeinflussen.
Wenden Sie in Ihrer Praxis auch pflanzliche Heilmittel an?
Ja, klar. Es kommt aber immer auf den Patienten an. Wie sieht sein Krankheitsbild aus, wie ist er eingestellt, was möchte er. Ich suche immer zusammen mit dem Patienten den für ihn besten Weg. Zum Klarstellen: Jedes pflanzliche Arzneimittel kann neben Wirkungen ebenso Nebenwirkungen haben wie ein chemisches Arzneimittel. Man denkt immer, alles Pflanzliche sei einfach gut, da es aus der Natur kommt – das stimmt hinten und vorne nicht. Trotzdem bin ich gegenüber alternativen Praktiken absolut positiv eingestellt, solange sie nicht schaden.
Bei welchen Beschwerden wenden Sie pflanzliche Heilmittel an?
Häufig im Bereich der Psyche oder bei Magen-Darm-Beschwerden. Es ist ja so, dass oft auch der Kopf mitspielt und die Psyche eine grosse Rolle spielt. Hier können pflanzliche Mittel sehr gut helfen. Zudem basieren auch viele chemische Medikamente auf Pflanzenbasis. Es gibt heilende, aber auch giftige Pflanzen, die je nachdem eingesetzt werden. Es gibt Pflanzen, die sehr gut untersucht sind und auch von der Schulmedizin gefördert und angewendet werden und diese sind dann oftmals auch in der Krankenkasse eingeschlossen. Bei leichten Depressionen oder Verstimmungszuständen arbeite ich oft mit Baldrian oder Johanniskraut. Aber manchmal reicht es eben nicht aus und dann braucht es etwas Zusätzliches.
Überweisen Sie manchmal Patienten an Alternative Heilpraktiker? Bei welchen Beschwerden?
Ja. Manchmal empfehle ich andere Therapieformen wie etwa TCM oder Osteopathie. Dies vor allem im Bereich des Bewegungsapparates, bei chronischen Kopfschmerzen oder Migräne. Aber ich sage den Patienten immer, sie sollen nicht drei Sachen auf einmal machen. Eines nach dem anderen, um herauszufinden, welche Therapieform denn nun wirklich geholfen hat. Viele sind ungeduldig und rennen von einer Therapie zur anderen, und so wissen wir am Schluss gar nicht, was wir eigentlich gemacht haben beziehungsweise was geholfen hat. Dafür haben wir viel Geld ausgegeben.
Wo sind Ihrer Meinung nach die Grenzen bei pflanzlichen Behandlungen?
Bei Pflanzen gibt es fast keine Grenzen. Natürlich muss man diese aber verstehen und wissen, wo sie einzusetzen sind, wo sie helfen und wo sie eher Schaden anrichten können. Bedenken habe ich aber bei Fernheilungen – da glaube ich nicht wirklich daran. In der Presse werden immer wieder Heilmittel angepriesen bei--
spielsweise gegen Haarausfall, Übergewicht oder Impotenz – wenn das bei allen nützen würde, hätten wir ja keine solchen Probleme mehr. Auch hier wieder: Bei einem Patienten nützt es, beim anderen nicht oder man glaubt daran oder eben nicht.
Was kann die Schulmedizin besser als alternative Heilmethoden?
Die Schulmedizin zeigte bei gewissen Krankheiten über Jahrzehnte, was man dagegen machen kann, damit diese nicht mehr auftreten oder diese geheilt werden können. Zum Beispiel war die Diagnose Kinderleukämie früher fast ein Todesurteil. Heute können 80 Prozent geheilt werden. Im alternativen Bereich gibt es nur wenige wissenschaftlich fundierte Studien, es gibt Einzelfälle, wo man sieht, dass es etwas bringt.
Wann beispielsweise macht die Kombination Sinn?
Gerade im pflanzlichen Bereich macht es oft Sinn. Dazu ein banales Beispiel: Husten ist keine Krankheit, sondern ein Symptom. Da gibt es einen Haufen schulmedizinischer Medikamente, die teilweise nützen, teilweise aber auch nicht. Es gibt dafür auch pflanzliche Mittel, die nützen oder eben auch nicht nützen. Denn Husten ist Husten. Insofern kann man hier sehr gut ein pflanzliche Mittel probieren.
Viele schulärztliche Medikamente werden bei den Krankenkassen angerechnet, einige alternative oder komplementäre Behandlungen aber nicht. Ist das gerechtfertigt?
Die Kasse muss sich ja orientieren können und das tut sie über wissenschaftlich untersuchte Methoden. Es ginge ins Unermessliche, wenn alles über die Krankenkasse abgerechnet werden könnte. Wer entscheidet dann, welche Therapie die richtige ist und abgerechnet werden soll? Es gibt tausende von Therapieformen. Wer bezahlt das? Können wir uns das leisten? Es gibt schon heute Menschen, die ihre Krankenkassen-Prämien kaum bezahlen können.
Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt?
Die war wohl für alle ähnlich. Ich sage schon seit Jahren, solche Pandemien werden die Zukunft sein. Es kommen immer wieder solche Krankheits-Wellen. Aber Corona war schon extrem im Bezug darauf, dass man von oben herab so extrem koordinieren und befehlen musste, was zu tun ist. Dennoch glaube ich, dass diese Führung nötig war, denn viele Menschen waren verloren und wussten nicht mehr, was sie machen sollen und was nicht. Wie hätten wir es denn sonst machen sollen? Jeder wie er will? Das hätte auch nicht funktioniert. Dennoch staunte ich, mit wie viel Einschüchterung und Angst die Menschen unterwegs waren. Es hiess ja einmal, die Ärzte dürfen nur noch Notfälle behandeln. Da habe ich mich schon gefragt: Was heisst Notfall? Definiere ich das oder definiert der Patient das? Wenn ich es definiert hätte, hätte ich in dieser Zeit wohl weniger Patienten gesehen. Aber auch etwas Banales kann für einen Patienten ein Notfall sein. Insofern wollte ich für alle da sein, denn sonst wären sie nicht mehr zum Arzt gegangen. Dies mit der möglichen Konsequenz, dass sie auch nicht mehr gekommen wären, wenn es dann ein «richtiger» Notfall gewesen wäre. Aber im Grossen und Ganzen konnte man in der Zeit ein wenig mehr zu sich kommen. Die Freizeitangebote waren beschränkt, man konnte etwas entschleunigen. Auch all meine Sitzungen konnte ich plötzlich von zu Hause aus tätigen. Ich fand das persönlich gar nicht mal so schlecht. Es war wie eine Denkpause. Zudem habe ich es sehr geschätzt, als ich im Dorf beim Abholen eines Take-away-Essens Wäseler getroffen habe und ein bisschen plaudern konnte. Schlimm waren jedoch die Zustände in den Altersheimen: Das war oft wie in einem Gefängnis und die Bewohnerinnen und Bewohner taten mir enorm leid. Aber ihm Nachhinein weiss man eh immer besser, was man hätte machen sollen.
Ein grosses Thema ist der Hausärztemangel. Warum herrscht hier Ihrer Meinung nach ein so grosses Defizit?
Das hat verschiedene Gründe. Ein wichtiger ist sicherlich, dass eine junge Ärztin, ein junger Arzt heute zwar gerne arbeitet, dennoch will er oder sie geregelte Arbeitszeiten und die Freizeit sowie Hobbies geniessen. Zudem haben sich in den letzten Jahren sehr viele zum Spezialisten ausbilden lassen. Das ist lukrativer. Der Generalist, eben ein Hausarzt, der überall Bescheid weiss und bei Bedarf weiterleiten kann, ist vom Aussterben bedroht. Ich sehe aber in den letzten zwei bis drei Jahren bei Studierenden und jungen Ärztinnen und Ärzten, die ich teilweise ausbilde, trotzdem ein zunehmendes Interesse an der Hausarztmedizin. Von daher bin ich positiv eingestellt, dass der Hausärztemangel wieder ein bisschen abnimmt. Es ist auch von Nöten, denn die Hausarztpraxen sind alle vollkommen überlastet. Auch ich kann praktisch keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Und wenn ich noch wollte, alleine geht es einfach nicht mehr. Die Auswirkung hier ist, dass auch die Notfallstationen komplett überlastet sind. Wenn jemand keinen Hausarzt mehr bekommt, wo soll er denn hin, wenn nicht auf den Notfall?
Das Defizit scheint auf dem Land grösser als in der Stadt, was sind die Gründe dafür?
In den städtischen Betrieben sind oft Gemeinschaftspraxen vorhanden, hier kann eben die geregelte Arbeitszeit einigermassen eingehalten werden. Die Einzelpraxen gibt es auf dem Land noch recht häufig. Hier ist es halt so, dass ich alleine dastehe, muss meinen Kopf hinhalten und trage die Verantwortung voll und ganz alleine. Ich muss mich um alles alleine kümmern, habe lange Präsenzzeiten. Das will heutzutage niemand mehr. Die Menschen auf dem Land identifizieren sich mit ihrem Hausarzt und viele junge Ärzte wollen dies gar nicht mehr. Ich habe viele junge Ärzte, die zu mir kommen und sagen, es ist super – aber nicht für immer. Das Verständnis, dass ich dann auch noch über der Praxis im gleichen Haus wohne, fehlt völlig. Sie sagen mir, ich müsse mich doch abgrenzen. Aber für mich stimmt das, ich möchte nichts anderes. Für mich gibt es nichts Schöneres als Allgemeinmedizin, denn kein Tag ist bei mir gleich. Hier bin ich nicht nur Arzt, ich bin auch ein Kollege für meine Patienten. Ich möchte nicht auf ein Gebiet spezialisiert sein und jeden Tag das Gleiche machen. Das wäre mir zu eintönig. Ich mag die Abwechslung, die ich jeden Tag habe, auch wenn es oft Flexibilität abverlangt. Man muss aber schon der Typ dafür sein.
Dr. Rothenbühler in Eriswil etwa konnte keinen Nachfolger finden und schloss seine Praxis altershalber. Sie führen Ihre Hausarztpraxis seit 26 Jahren in Wasen. Machen Sie sich bereits Gedanken, wie es mit Ihrer Praxis einmal weitergehen wird?
Ja, der Buchhalter und die Altersvorsorge haben mich schon gefragt, wie ich mir das vorstelle bis zum normalen Pensionsalter. Sie haben mich auch gefragt, ob ich weitermache. Hier sage ich: Möglicherweise. Meine Frau ist noch etwas jünger als ich, vielleicht mache ich auch noch so lange, bis sie pensioniert ist. Aber es kommt immer darauf an, wie es mir geht und ich mich fühle. Ich kenne genug Ärzte, die einfach noch «gedökterlet» haben, bis sie 70 oder 75 Jahre alt waren – das werde ich ganz sicher nicht machen. Das Beste wäre natürlich, wenn ein oder mehrere junge Ärzte bei mir einsteigen und die Praxis dann irgendwann übernehmen würden. Aber das will heute kaum mehr jemand. Die Jungen wollen sich nicht verschulden und binden lassen. Wenn sich nichts ergibt, schliesse ich die Praxis und fertig. Aber was ich dazu noch sagen möchte: Es wäre wünschenswert, dass sich die Gemeinde auch einsetzen würde, dass eine Praxis im Dorf weiter bestehen bleibt. Es ist nämlich nicht mehr selbstverständlich, dass die ländliche Bevölkerung einen Hausarzt vor Ort hat.
Noch ein Wort von Ihnen zum Gesundheitswesen und den stetig steigenden Kosten?
Ich spüre in meiner Praxis sehr viel Anerkennung und Wertschätzung. Dies sicherlich auch, weil ich versuche, mir Zeit für die Patienten zu nehmen und den Menschen dahinter sehe. Wir laufen aber Gefahr, in eine «Fliessbandabfertigung» reinzurutschen. Es ist so viel Bürokratie-Arbeit nötig geworden. Das Gespräch, die Zeit und Empathie, die das Wichtigste sind, ist in den Hintergrund gedrängt worden. Das ist keine gute Entwicklung. Zudem weitet sich das Gesundheitswesen aus, es gibt sehr viele Therapieformen. Die Gesundheitskosten steigen und steigen. Ich weiss nicht, wohin das führt. Das alles macht mir schon ein wenig Sorgen, denn das Gesundheitswesen wird mehr und mehr nur noch zu einem «Business».