• Seit zwölf Jahren ist die 74-jährige Wyssacherin Ruth Gschwind die gute Fee, welche die Strassenränder in Huttwil und Umgebung vom Abfall befreit. · Bilder: Stefan Leuenberger

  • Wieder wurde das «Ghüderfroueli» erkannt und von einem Autofahrer mit einem Hupen gegrüsst. Erfreut grüsst Ruth Gschwind lächelnd zurück.

30.04.2020
Oberaargau

Corona bringt «Ghüderfroueli» Mehrarbeit

Sie nennt sich selber «Ghüderfroueli». Doch mit ihrer Litteringbekämpfung ist sie viel mehr eine Heldin. Mit dem Sauberhalten der Strassen-, Weg- und Waldränder in Huttwil und Umgebung leistet die 74-jährige Wyssacherin Ruth Gschwind seit zwölf Jahren einen unbezahlbaren Beitrag zum Umweltschutz. Bedenklich: Während der zum Nachdenken anregenden Coronavirus-Krise sammelt Ruth Gschwind noch mehr «Ghüder».

 

Region · Sie ist durch ihr Schaffen bekannter als so mancher Lokalpolitiker: Ruth Gschwind aus Wyssachen sammelt entlang den Strassen den «Ghüder» anderer Leute. Und dies seit zwölf Jahren ununterbrochen. «Ich mag es einfach sauber», sagt die gute Fee, die mit ihrer orangen Leuchtweste, der umgehängten Lesebrille und den Jeans zu einem Original geworden ist.

Erst Billetteuse, dann Bauersfrau
Zusammen mit ihrem Mann zog Ruth Gschwind von Zürich, wo sie als eine der letzten Billetteusen ihren Lebensunterhalt verdiente, nach Wyssachen. Dort führte das Ehepaar 31 Jahre lang einen Bauernbetrieb. In dieser Zeit war das Reiten das grösste Hobby von Ruth Gschwind. Mit den Pferden stiess sie zu ihrer neuen Berufung. «Mit dem Hüttenwagen hielt ich immer wieder an, um sinnlos Weggeworfenes aufzuheben», erzählt die Wyssacherin. Nach der Aufgabe des Bauernbetriebes und der Reiterei begann Ruth Gschwind 2008 damit, die Säuberung zu Fuss vorzunehmen. Ihr neues Hobby brachte ihr gleich mehrere Vorzüge. «Ich will etwas für die Umwelt tun. Zeitgleich bewege ich mich dadurch täglich an der frischen Luft und bleibe dank der vielen Bewegung und der weiten Distanzen fit.» Der Grund für ihre Tätigkeit ist allerdings tragisch. «Es ist unglaublich, dass Menschen ihren Müll einfach in der Natur entsorgen», schüttelt Gschwind den Kopf. Sie habe in all den Jahren gelernt, «wüst» zu reden. «Souhüng!», eine andere Bezeichnung falle ihr für diese Umweltsünder nicht ein. «Es kann doch jeder seinen Abfall daheim entsorgen», ist sie überzeugt. Anscheinend nicht. Seit zwölf Jahren sammelt Ruth Gschwind eine ungeheure Menge Abfall, die wild verteilt wird, zusammen. «Leider ist es während meiner Tätigkeit immer mehr geworden», sagt die in Untersteckholz aufgewachsene Abfallsammlerin. Und, was aufgrund der Zeit der Besinnung fast ein bisschen schizophren tönt: «Während der Coronavirus-Krise benötige ich zum Säubern noch länger – und es gibt noch mehr Abfall.» Aber warum ist das so? «Die Leute haben mehr Zeit. Aber scheinbar ist das Hirn ausgeschaltet», spricht Gschwind mit den Sündern Klartext. Sie hat auch schon Mundschutze und Handschuhe gefunden.

Alle drei Wochen am gleichen Ort
Die gute Seele ist von Montag bis Samstag jeden Nachmittag zwei bis fünf Stunden auf ihren Routen um Huttwil (und auch im Städtli), Schwarzenbach, Schweinbrunnen, Wyss-achen, Dürrenroth, Eriswil, Gondiswil und Wasen unterwegs. Und zwar im dreiwöchigen Turnus. «Kehre ich zurück, ist vom letzten Putz nichts mehr zu sehen», bedauert sie. Das Hobby von Ruth Gschwind ist eine Sisyphusarbeit. Während eines Einsatzes bückt sich die Rentnerin tausendfach. «Was ich alles vom Boden und aus dem Gras hebe, ist unglaublich», berichtet Gschwind. Unmengen von Petflaschen («ich habe selber noch nie eine Petflasche gekauft») und Alubüchsen («die Energy-Drinks liegen ganz hoch im Kurs»), Feuerzeuge, Plastik, Batterien, Glas, Fast-Food-Verpackungen oder Pneus sammelt das selbsternannte «Ghüderfroueli» zusammen.

Sechs Schwangerschaftstests
«Es gibt himmeltraurige und widerliche Sachen, die ich finde.» Aber auch Spezielles. «Erst gerade wurden in der Schwende vier Polsterstühle deponiert. Im Februar habe ich sechs Schwangerschaftstests gefunden – alle positiv», schmunzelt Gschwind. In den zwölf Jahren ist Ruth Gschwind derart mit ihrem Hobby verwurzelt, dass sie von «Kunden» spricht. «Seit kurzem habe ich Ausgangs Huttwil einen Neukunden. Immer an der gleichen Stelle hebe ich die gleichen Schnaps-Schöttli auf.» Den Huttwilwald nennt sie ironisch «Büchsenwald» («ich habe dort an zwei Nachmittagen 26 Aludosen gesammelt»). Am liebsten sammelt Gschwind am Samstag. «Dann sind keine Lastwagen, die mich jeweils fast 'wegchutten', unterwegs.»

Eine unglaubliche Abfallmenge
Was die Leute alles zum Autofenster hinauswerfen oder sonst der Strasse entlang entsorgen, ist erschreckend. In 14 Tagen kommen bei Ruth Gschwind acht randvoll gestopfte 35-Liter-Abfallsäcke zusammen. «Und darin befinden sich keine Petflaschen, Alubüchsen und Karton. Ich sortiere den Müll daheim und entsorge ihn an den entsprechenden Stellen fachgerecht», informiert Gschwind. Bis vor sieben Jahren alles auf eigene Kosten. Seither kommt die Gemeinde Wyssachen für die Abfallmarken auf.

1000 Zigarettenstummel pro Einsatz
Als ob der Müllberg und die Arbeit nicht schon gross genug wären, entschloss sich die vife Rentnerin 2013, auch noch die Zigarettenstummel – und auch die Schachteln und Plastikhüllen – ins «Sammelprogramm» aufzunehmen. «Ich rauche selber. Aber es geht mir nicht in den Kopf, dass man die Stummel einfach aus dem Auto-fenster ins Gras wirft», ereifert sich Gschwind. «Die Kühe fressen das Gras, ich trinke die Milch und esse das Fleisch. Und wenn es regnet, wird das Gift – und es ist reichlich darin enthalten – aus den Zigarettenstummeln in die Böden und das Grundwasser gespült.» Dies bewog das «Ghüderfroueli» dazu, sich fortan auch noch für die unbelehrbaren Raucher zu bücken. «Oft sind es weit über 1000 Kippen an einem Nachmittag, obwohl ich doch erst drei Wochen vorher da war», schüttelt Gschwind ungläubig den Kopf.
Die Positivdenkerin gewinnt dem schlimmen Littering aber auch etwas Gutes ab. «Das viele Bücken hilft mir. Ich habe dank meinem Hobby keine Rückenschmerzen mehr.» Trotzdem sieht der Gang von Ruth Gschwind nicht sehr ergonomisch aus. «Dies ist wegen meinem rechten Knie. Ich habe es früher beim Fussballspielen kaputt gemacht. Seit einem Jahr habe ich eine Herzklappe. Ausserdem habe ich vom langjährigen Reiten richtige O-Scheiche. Zusammen sieht das nicht so laufstegmässig aus.» So hofft die humorvolle 74-Jährige, ihren Frondienst noch lange ausüben zu können. «Feiss werden kann ich bei dieser Aktivität auch nicht», lacht Gschwind. «Und wenn es dann körperlich einmal nicht mehr geht, dann ist es dann halt so.» Seit Jahren bildet das Hobby den Lebensinhalt von Ruth Gschwind. Nach einem Sammelnachmittag gönnt sie sich gerne ein Bierli in einem Beizli nahe dem Sammelgebiet. Oft erhält sie etwas offeriert.
Ist sie zuhause, läuft am Radio die Musigwelle. «Darum ist mein Mann froh, wenn ich am Nachmittag verschwinde und so Ruhe einkehrt», lacht Gschwind, und setzt ihren dauerhaften Schalk gleich fort: «Ich schaue nur selten Fernsehen. Die Zeit fehlt. Und mit dem Lesen des Unter-Emmentalers bin ich einen ganzen Monat hintendrein.» Eine Sammel-Zwangspause gibt es bei starkem Regen. «Dann werde ich von jedem vorbeifahrenden Auto angespritzt.»    

Auszeichnungen erhalten
Das Sauberhalten der Strassen wird anerkannt. «Ich habe schon viele Geschenke und Trinkgelder von Firmen und Privatpersonen erhalten, was mich sehr freut.» Ihr soziales Engagement wurde 2015 mit der «SP-Rose» gewürdigt. Und 2019 wurde sie für ihren Sondereinsatz für Mensch, Tier und Umwelt sogar zur «Wyssacherin des Jahres» gewählt.
Das «Ghüderfroueli» ist populär geworden. Autolenker grüssen die unermüdliche Krampferin beim Vorbeifahren mittels Hupen. «Der Rekord liegt bei 69 hupenden Autos in fünf Stunden. Ich freue mich darüber und grüsse alle freundlich. Gleichzeitig muss ich aber schauen, dass ich durch das Grüssen nicht zuviel Sammelzeit verloren geht. Zudem muss ich wegen dem Verkehr vorsichtig sein.» Sie droht aber auch: «Niemals soll jemand wagen, mir zu hupfen, der zuvor schon Sachen aus dem Autofenster entsorgt hat.» Es gebe ein besseres Beispiel, fügt Gschwind schmunzelnd an: «Es gibt einen älteren Autofahrer, der immer wieder langsam vorbei fährt und mir dabei Schokolade zuwirft.» Die Anerkennung ist gross. Sie habe aber auch Neider, äussert Gschwind traurig. «Ich kann es nicht verstehen. Ich möchte mit dem Müllauflesen doch nur die Menschen sensibilisieren, die Natur zu schützen.» Was für eine wundervolle Berufung. 

Von Stefan Leuenberger