«Covid liess das Fass überlaufen»
Am 28. November stimmt die Schweizer Bevölkerung über die Pflegeinitiative ab. «Ein Umdenken ist dringend nötig», finden Cornelia Gerber-Schärer und Werner Maag, beide von Langenthal. Sie ist diplomierte Pflegefachfrau HF mit Schwerpunkt Psychiatrie sowie Fachdozentin Pflege und war selbst Pflegeempfängerin, er hat 20 Jahre als Pflegehelfer SRK gearbeitet. Beide kennen die Situation im Gesundheitswesen.
mmental / Oberaargau · «Die Berufsbedingungen für einen sozialen Beruf sind heute äusserst asozial», hält Cornelia Gerber fest. «Viele Pflegende sind frustriert, dass sie den Menschen nicht mehr das geben können, was sie möchten und was diese brauchen.» Das sei mit ein Grund, weshalb sich heute viele vom Beruf abwenden und sich in einem anderen Metier betätigen. Das Problem existiere nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie, weiss die 42-Jährige. «Die Situation war schon vorher prekär. Covid-19 hat das Fass jetzt zum Überlaufen gebracht.» Das war Anlass für ein überparteiliches Komitee, die Pflegeinitiative zu forcieren. Die drei Hauptanliegen der eidgenössischen Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» sind mehr Pflegende auszubilden, Berufsausstiege mit verbesserten Arbeitsbedingungen zu verhindern und die Pflegequalität mit genügend Pflegenden zu sichern und zu garantieren. Die Forderungen sollen gemäss Initiativtext in der Bundesverfassung in Artikel 117 (Medizinische Grundversorgung) aufgenommen und in Artikel 197 (Übergangsbestimmungen) geregelt werden. «Applaus allein reicht nicht», betont auch Werner Maag und fährt fort: «Es braucht jetzt ein klares Ja zur Initiative. Die Ablehnung wäre ein Affront gegenüber allen Pflegenden.»
Zuviel Bürokratie und Kostendruck
Wie sich der Beruf im Pflegebereich verändert hat, zeigt Werner Maag anhand eines Rückblickes auf. «Als ich vor 20 Jahren in den Beruf einstieg, hatten wir noch Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner. Wir konnten auch mal bei ihnen verweilen und ihnen zuhören.» Dies sei gerade im Altersbereich wichtig, wo er bis zu seiner Pensionierung Mitte 2021 tätig war. «Berufe in der Pflege erfordern Empathie. Diese kommt mit der Lebenserfahrung.» Mit der Zeit habe die Bürokratie im Pflegebereich immer mehr zugenommen, ebenso der Kostendruck. «Statt sich voll und ganz auf die Heimbewohner konzentrieren zu können, war man mit den Gedanken schon bei der nächsten Bewohnerin, die dringend Unterstützung benötigte und diese mangels Personal nicht umgehend erhielt.»
Komplexität hat zugenommen
Das bestätigt auch Cornelia Gerber. «Die Komplexität der Pflege ist grösser geworden. Was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die Spitäler die Patientinnen und Patienten weniger lang betreuen und diese zu früh in die Heime überwiesen oder nach Hause geschickt werden, wo man nicht auf solche Fälle vorbereitet ist.» Im Spital würden gerontologische Leistungen nicht abgegolten, weshalb diese kein Interesse an diesen Fällen hätten. Dass viele Pflegende damit Probleme haben, kennt sie aus ihrer Praxis, in der sie Coaching und Prozessbegleitung für Institutionen und Privatpersonen anbietet. «Berufsleute aus der Pflege fragen, wie und was sie essen sollen, wenn sie dazu keine Zeit hätten und ohne Pause Schicht arbeiten müssen.»
Cornelia Gerber kennt auch die andere Seite, war sie doch als Multiple Sklerose-Betroffene selbst Pflegeempfängerin. Sie habe während ihrer Zeit in Pflegeinstitutionen teilweise sogar Arbeiten selbst übernehmen müssen, weil die Pflegenden nicht dazu gekommen seien. «Es hiess dann, ich sei ja Pflegefachfrau, ob ich mich nicht teilweise um mich selbst und andere Patienten kümmern könnte, da sie keine Zeit hätten.» Zudem sei die Gefahr von Flüchtigkeitsfehler bei zu wenig Personal gross.
Gegenvorschlag
Dem Bundesrat und dem Parlament geht die Initiative zu weit. Sie stellen ihr einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber. Dieser verspricht, die Aus- und Weiterbildung während acht Jahren mit bis zu einer Milliarde Franken zu fördern. Pflegefachpersonen sollen zudem gewisse Leistungen direkt abrechnen können, wobei der Kontrollmechanismus verhindern soll, dass dadurch die Gesundheitskosten und die Krankenkassenprämien steigen. Dass Pflegefachpersonen direkt abrechnen können, fordert auch Cornelia Gerber, da dies ihrer Meinung nach die Bürokratie mindern und die Kosten senken würde. Eine Ausbildungsoffensive allein sei hingegen nicht genug. «Es braucht auch erfahrene Pflegende, welche die Lernenden mit ihrem Fachwissen begleiten. Um diese halten zu können, braucht es menschlichere und familienfreundlichere Arbeitsbedingungen.» Dem Einwand der Gegner, Pflegefachpersonen in Vollzeit würden im Vergleich zu anderen Berufen genügend verdienen, widerspricht sie nicht per se. «Aber in unseren Berufen arbeitet kaum jemand 100 Prozent.» Das bestätigt auch Werner Maag. «Die Arbeit der Pflegenden zehrt körperlich und mental an den Ressourcen und Reserven. Eine Vollzeitstelle bewältigen nur wenige.»
Um die Situation im Gesundheitswesen zu verbessern, brauche es eine andere Finanzierung, betonen Werner Maag wie Cornelia Gerber. «Das Ganze müsste als Non-Profit-Organisation geführt werden», sagt er und sie ergänzt: «Analog der Bildung. Denn beides ist elementar. Und, das muss den Menschen endlich klar werden, eine bessere Situation im Gesundheitswesen dient nicht nur den Pflegenden, sondern ist für uns alle von grosser Bedeutung.»
Gut zu wissen
Cornelia Gerber-Schärer ist 42-jährig und wohnt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Langenthal. Die diplomierte Pflegefachfrau HF mit Schwerpunkt Psychiatrie hat einen Master in Coaching und systemischer Ausbildung und führt in diesem Bereich eine eigene Praxis. Sie ist Fachdozentin Pflege und in Ausbildung zur Erwachsenenbildnerin. Werner Maag ist 66-jährig, Vater von drei Kindern und Grossvater von fünf Enkelkindern. Auch er lebt in Langenthal. Der ausgebildete Bauingenieur HTL arbeitete als Verkaufsberater im Aussendienst, bevor er sich aus persönlichen Gründen einem Beruf im Gesundheitswesen zuwandte. Nach einer Ausbildung zum Pflegehelfer SRK arbeitete er von 2005 bis zu seiner Pensionierung Mitte 2021 in Altersinstitutionen. Das Initiativkomitee Oberaargau für ein Ja zur Pflegeinitiative ist morgen Samstag, 6. November, in der Marktgasse Langenthal mit einem Stand vertreten.
Von Irmgard Bayard