Damit Märchen nicht in Vergessenheit geraten
«Es war einmal …» Diese drei Wörter verbinden die meisten Menschen mit Märchen der Brüder Grimm. Dank ihnen wurden viele bekannte Märchen wie Rotkäppchen, Hänsel und Gretel und Aschenputtel in die Kinderstuben getragen. Doch es gibt noch Abertausende weiterer Sagen, Mythen und Legenden aus verschiedenen Ländern, auch aus der Schweiz, die kaum jemand kennt. Die Mutabor-Märchenwelt, bestehend aus dem Mutabor-Verlag, der Mutabor-Märchenstiftung und den Mutabor-Märchenseminaren, sorgt seit vielen Jahren dafür, dass diese Märchen nicht in Vergessenheit geraten.
Trachselwald · Kinder lieben Märchen und sind fasziniert von der fantastischen Zauberwelt. Märchen sind aber nicht nur unterhaltsam, sondern auch in der Erziehung bedeutend. Es gibt viele Gründe, die für das Erzählen und Vermitteln der alten Sagen, Mythen und Legenden sprechen. Es sind «Mutmachgeschichten», die Zuversicht und Vertrauen in die eigene Stärke entstehen lassen. Denn am Ende obsiegt das Gute. Kindern tut aber auch die At-mos-phäre des Vorlesens oder Erzählens gut. Unter einer Decke an Mama, Papa oder Grosi gekuschelt auf eine märchenhafte Reise gehen – solche frühkindlichen Erlebnisse stärken das Urvertrauen und bleiben oft ein Leben lang in Erinnerung.
Kinder hören gerne zu
«In einem Vortrag an einem unserer Märchenseminare wurde von einer Feldstudie berichtet, die aufzeigt, dass die meisten Eltern mit ihren Kindern in den ersten vier Jahren durchschnittlich täglich lediglich zweieinhalb Minuten kommunizieren. Das Ergebnis hatte mich schockiert», erzählt der in Trachselwald wohnhafte Hasib Jaenike, der zusammen mit seiner Frau Djamila seit bald 30 Jahren Märchenseminare durchführt, vor 19 Jahren eine Märchenstiftung gründete, seit 2010 einen Märchenverlag hat und eine Zeitschrift für Märchen und Erzählkunst herausgibt.
Die besagte Feldstudie kam zum Ergebnis, dass 90 Prozent dieser Kommunikation aus Geboten und Verboten bestand: Komm! Hör auf! Mach! Los! Fertig! Bitte! Iss mal! Hör mal! ... «Kinder hören gerne zu, denn – wie die Feldstudie aufzeigte – sonst wird ihnen nicht viel erzählt. Meiner Frau und mir liegt es am Herzen, dass diesbezüglich wieder eine Kultur entsteht, nicht nur das Erzählen, sondern auch das Zuhören. Dass wieder ein soziales Miteinander entsteht, nicht nur zu Hause auf dem Sofa, sondern auch beispielsweise in Schulen oder Kleintheatern. Deshalb haben wir die Schule für Märchen und Erzählkultur gegründet, in denen Märchenerzählerinnen und Märchenerzähler ausgebildet werden», erklärt Hasib Jaenike. Der studierte Psychologe spricht ruhig und leise, manchmal verfällt er sogar ins Flüstern.
In den angebotenen Seminaren lernt man von der Pike auf alles, was es braucht, um frei, mutig, lebendig und individuell ein Märchen vorzutragen. Egal ob vor Erwachsenen, Kindern oder älteren Menschen. Dabei wird die Stimme, die Sprache, die Mimik, der Augenkontakt, die Gestik und vieles mehr geschult.
Märchen als Kulturerbe
Um den Märchen und der Erzählkunst in der Kultur wieder eine Stimme zu geben, wurde 2003 die Mutabor-Märchenstiftung gegründet, welche sich mit verschiedenen Projekten für diese Ziele einsetzt. Zusätzlich entstand aus einem internen Publikationsformat für die Erzählerinnen und Erzähler in der Ausbildung nach und nach eine professionelle Zeitschrift, die heute von Abonnentinnen und Abonnenten in über zehn Ländern gelesen wird. «Wir haben für die Zeitschrift ein besonderes Lob der Schweizerischen UNESCO-Kommission für die positive Arbeit zur Erhaltung des Kulturerbes erhalten», erzählt Hasib Jaenike.
Der Verlag wurde 2010 gegründet
Der Mutabor-Märchenbuchverlag wurde im Jahr 2010 gegründet und ist aus der Mutabor-Märchenstiftung entstanden. Die Seminare, die Stiftung und der Verlag nennen sich zusammen die Mutabor-Märchenwelt. («Mutabor» ist der Zauberspruch im Märchen Kalif Storch und heisst auf Deutsch: «Ich werde verwandelt werden»). Durch den Mutabor-Märchenverlag sind bisher sechs Märchenbücher erschienen. Das erste Buch «Baummärchen aus aller Welt» wurde bereits in der vierten Auflage herausgegeben. Seit September ist das neuste und sechste Märchenbuch «Kindermärchen für Gross und Klein» erhältlich. «Jedes Buch hat sieben Kapitel und ein Schwerpunktthema und die Märchen sind mit Altersangaben versehen», erklärt Hasib Jaenike. Es sind ausgewählte Märchen aus aller Welt, auch aus der Schweiz.
Die gesammelten Geschichten werden vor der Veröffentlichung sprachlich leicht überarbeitet, damit sie besser lesbar und leichter zu erzählen oder vorzulesen sind.
Unzählige Märchen-Varianten
«Unser Ziel ist es, dass es Freude macht, die Märchen zu lesen und zu hören», hält der 73-jährige gebürtige Deutsche fest. Die Märchensprache sei eine Bildsprache, in der man in eine andere Welt eintauchen könne. Tiermärchen beispielsweise stehen stellvertretend für menschliche Eigenschaften, sind sehr lehrreich und besonders für Kinder sehr unterhaltsam. «Grundsätzlich ist es wichtig, dass bei Märchen für Kinder die Hauptfigur im Kindesalter ist, damit sich die Kinder mit ihr identifizieren können», weiss Hasib Jaenike. Denn viele uns bekannte Märchen wie Schneewittchen oder Rapunzel behandeln Erwachsenenthemen. Obwohl sie infantilisiert wurden, eignen sich diese Märchen nicht unbedingt für Kinder.
Viele dieser bekannten Märchen gibt es in unzähligen Varianten. «Aschenputtel beispielsweise gibt es über 400 Mal auf der ganzen Welt. Die Geschichten wurden von Wandergesellen von Land zu Land weitergetragen», so Hasib Jaenik Eine Schweizer Version gibt es als Beispiel auch vom bekannten Märchen «Rumpelstilzchen». In deren Version heisst es aber nicht «Ach, wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss», sondern: «Ei, Gott seis gedankt, dass mis Schätzeli nit weiss, dass i Hans-Öfeli-Chacheli heiss».
Aktuell wird mit verschiedenen Fachpersonen an einer Online-Sammlung unter dem Titel «Märchen aus der fernen Heimat» gearbeitet. Darin kann man Märchen aus den Kulturen und Ländern von Menschen, die als Flüchtlinge in die Schweiz kamen, lesen. «Es sind jeweils unterhaltsame, spannende, nicht allzu lange Märchen, die in einfachem Deutsch und zum Teil bereits in den Ursprungssprachen, wie zum Beispiel arabisch, kurdisch und hoffentlich bald auch ukrainisch, zur Verfügung stehen», verrät Hasib Jaenike.
Märchen im Ballenberg
Seit 2020 arbeitet Mutabor mit dem Freilichtmuseum Ballenberg zusammen. Im Projekt «Ganz Ohr – Märchen-, Sagen- und Klangwelt Ballenberg» wurden verschiedene Audios mit Sagen aus der Schweiz realisiert.
So kann heute beispielsweise das Emmentaler Märchen «Käseprobe» (bei den Brüdern Grimm als «Brautprobe» bekannt) im Käsespeicher aus Wasen via QR-Code auf dem Smartphone gehört werden. Jeden dritten Sonntag im Monat sind Märchenerzählerinnen vor Ort und entführen die Besuchenden in eine sagenumwobene Welt. Die vielen Jahre Einsatz für die Märchen- und Erzählkultur haben sich demnach für das Ehepaar Jaenike gelohnt und den Wunsch der Mutabor-Märchenwelt, auch unbekannte Märchen bekannter zu machen, wieder einen Schritt weiter gebracht.
Von Marion Heiniger