Darum ist der Dopingfall so umstritten
Die Disziplinarkammer des Schweizer Sports wird bald entscheiden, wie es mit dem provisorisch gesperrten Mountainbiker Mathias Flückiger aus Leimiswil, der im Juni positiv auf die anabole Substanz Zeranol getestet wurde, weiter geht.
Radsport: Mathias Flückiger, Mountainbiker aus Leimiswil · «Profibiker trinkt täglich zwei Liter Milch», lautete vor Jahresfrist die Schlagzeile einer Homestory über Mathias Flückiger. In diesem persönlichen Porträt in der Fachzeitung «Schweizer Bauer» erfuhr man neben der Jugendzeit auf dem Bio-Bauernhof, dem Hang zu Müesli und Milchprodukten sowie der Liebe zu Freundin Lisa eben auch, dass der 34-Jährige sehr selten Fleisch isst. Dumm nur, dass der Konsum von kontaminiertem Fleisch gemäss Expertise die mit Abstand grösste Chance ist, um aus der Dopinganschuldigung wieder herauszukommen. Denn die Welt-Antidoping-Behörde Wada sieht bei einer sehr tiefen Konzentration der anabolen Substanz Zeranol, wie es bei Flückiger der Fall war, ein genau beschriebenes Vorgehen vor, um das Szenario einer unabsichtlichen Aufnahme durch Fleischverzehr allenfalls erhärten zu können. Dumm auch, dass der Olympiazweite von Tokio 2021 die Tage vor der verhängnisvollen Dopingprobe vom 5. Juni 2022 zuhause im Oberaargau verbrachte. Eine Rückkehr aus den USA oder aus Südamerika, wo das in Europa seit 1981 verbotene Rinder-Mastmittel mehr oder weniger regelmässig eingesetzt wird, hätte das Kontaminations-Szenario vielleicht entscheidend gestützt.
Seit 2016 gab es keine Zeranol-Proben an importiertem Fleisch
Oder zumindest ein Trip nach Rumänien – jenem europäischen Staat, dessen Lebensmittelkontrolle in den vergangenen Jahren einige wenige auf Zeranol positive Stichproben von Rindfleisch gemeldet hat. In der Schweiz gab es bei den Importkontrollen nie eine Verunreinigung durch Zeranol. Wobei hier ein anderes Dilemma beginnt: Die letzten Kontrollen auf die Substanz wurden gemäss Bundesamt für Lebensmittelsicherheit 2014 und 2015 vorgenommen. Seither gab es nie Stichproben mit dem Ziel, Zeranol nachzuweisen. Wer nicht sucht, der kann auch nichts finden. Diese Weisheit trifft auf vieles im «Fall Flückiger» zu und erschwert klare und schnelle Antworten auf die im Grunde einfache Frage: Ist der Profibiker Täter oder Opfer?
Wegen fehlender Relevanz fehlt wissenschaftliche Doping-Forschung
Weil in der Wada-Dopingstatistik der vergangenen 20 Jahre genau 10 Fälle aufgelistet sind und davon nur in zwei bekannten Fällen Sperren ausgesprochen wurden, gibt es in der Antidoping-Wissenschaft mangels Praxisrelevanz kaum Studien und Forschung zu Zeranol. Klare und seriöse Aussagen zu Fragestellungen wie «Ist Zeranol bei microdosiertem Doping überhaupt wirksam?» kann kein Experte machen.
Zu den einzelnen Details, die ent- oder belastend für Flückiger sind, kann man also nur Indizien sammeln. Weil eine Probe sechs Tage vor dem verhängnisvollen Test an der Schweizer Meisterschaft negativ war, müsste es bei bewusstem Doping eine sogenannte Mikrodosierung gewesen sein, um nicht in den immer exakter messenden Geräten der Antidoping-Labore hängen zu bleiben.
Das Schwarze Buch der Anabolen Substanzen – in Kraftsport-Kreisen gerne als Anleitung zum Dopen gebraucht – umfasst 1033 Seiten. Das Wort Zeranol kommt darin im Gegensatz zu rund 50 anderen Anabolika nirgends vor. Das fehlende Fachwissen über die Dopingrelevanz führt in der Regel aber dazu, dass Sportler die Substanz nicht zu diesem Zweck verwenden. Welcher Profisportler, der ein so hohes Risiko eingeht, alles zu verlieren, macht das schon mit einem Mittel, dessen Wirksamkeit nicht erwiesen ist?
Experten melden bei der Wada Zweifel an
Irgendwie aber müssen die 0,3 Nanogramm pro Milliliter in Flückigers Urin gelangt sein. Eine wirklich gute Erklärung hat keine Seite. Ein gutes Dutzend angefragter Dopingexperten geht aber aufgrund der bekannten Fakten erstaunlich einmütig von keinem absichtlichen Doping aus. Selbst die Wada als eine Art Supervisor hat mehrere Reaktionen von Experten erhalten, die Bedenken zum Ablauf des Verfahrens und zur Entscheidung von Swiss Sports Integrity äusserten, den Athleten provisorisch zu sperren.
Was aber hat es mit der Milch auf sich? Schliesslich kommt diese auch von der Kuh. Und tatsächlich gab es jüngst einen Fall in Südamerika, wo bei einer anderen Dopingsubstanz kontaminierte Milch zu einer Entlastung des angeklagten Sportlers führte. Ganz so abwegig ist dieses Szenario bei Flückiger also nicht, wobei auch hier gilt: Man kann nicht ausschliessen, dass die Substanz in Kleinstmengen auf andere Wege in den menschlichen Organismus gelangt. Weil es schlicht keine wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema gibt.
Ein Wert von 0,3 ng/ml ist Biologie und nicht Mathematik
Von Seiten des belasteten Athleten wurde in den vergangenen Wochen der Faktor «fehlende Fairness» gleich in mehreren Punkten ins Feld geführt. Etwa mit der Aussage, dass weltweit nur die drei Labors von Lausanne – wo Flückigers Probe analysiert wurde – von Köln und von Montreal dank den modernen Apparaturen eine solch kleine Menge überhaupt entdecken können. Wäre also die Urinprobe in Frankreich oder Österreich analysiert worden – niemand hätte einen Fremdstoff darin entdeckt. Auch hier gilt: Es gibt keinen konkreten Beweis für diese Aussage. Nur die Tatsache, dass die vorgegebene Grenze der Konzentration, welche ein Labor nachweisen können muss, mit 0,5 ng/ml ohnehin nur unwesentlich höher liegt als der bei Flückiger festgestellte Wert (0,3 ng/ml).
Zudem ist dieser Wert von 0,3 Biologie und nicht Mathematik. Viele getrennte Abbauprozesse im Körper sorgen dafür, dass der Wert zum Beispiel schwankt, wenn man mehr oder weniger trinkt oder mehr oder weniger Stress während des Wettkampfs verspürt. Auch zwischen einem Spanier und einem Japaner kann der Wert mit den gleichen Parametern bei einem gleichzeitigen Test unterschiedlich ausfallen. Kommt hinzu, dass auch aus dem biologischen Passport, welcher für Topathleten wie Flückiger mit den Resultaten der wiederkehrenden Dopingtests geführt wird, nichts herauszulesen ist, weil dort nicht die gleichen Parameter erkennbar sind.
Wieso häufen sich Zeranol-Befunde in mehreren Antidoping-Labors?
Neben den thesengesteuerten Argumenten wie Milch oder Mikrodosierung gibt es einen ganz speziellen aktuellen Fakt – der ebenfalls wieder Raum für Interpretationen bietet. Nachdem in den vergangenen Jahren Zeranol kaum je nachgewiesen wurde, berichten mehrere europäische Dopinglabors von einer auffälligen Häufung von Zeranol-Befunden in kleinen Mengen unterhalb des Schwellenwerts in diesem Jahr. Nur wurden diese Verfahren im Gegensatz zu jenem des Schweizer Veloprofis nicht publik. Eine Anfrage nach den möglichen Gründen lässt die Wada trotz telefonischem Nachhaken mehrere Tage unbeantwortet – mit dem Verweis, die Rechtsabteilung müsse zuerst prüfen, was man genau dazu sagen könne. Inzwischen hat die Wada die Zunahme von Zeranol-Dopingtests in den vergangenen Monaten in verschiedenen europäischen Labors schriftlich bestätigt.
Disziplinarkammer richtet nach Recht und nicht nach Moral
Während die Öffentlichkeit über die moralische Komponente rätselt, ob Mathias Flückiger denn nun ein Betrüger oder ein hoch anständiger Sportler ist, konzentriert sich die Disziplinarkammer des Schweizer Sports um rein rechtliche Punkte: Zeranol ist auf der Verbotsliste – Wirksamkeit hin oder her. Die Probe des Bikers ist per se nicht ein positiver Fall und dennoch passiert mit der provisorischen Sperre das gleiche Szenario wie eineinhalb Jahre zuvor bei Sprinter Alex Wilson.
Derzeit befragt die Disziplinarkammer, gemäss zuverlässigen Quellen, die Parteien. In absehbarer Zeit wird sie entscheiden, ob die provisorische Sperre aufgehoben wird oder nicht. Zusätzlich geht es darum, ob Swiss Sports Integrity die Ermittlungen korrekt durchgeführt hat. Eine solche Fragestellung ist zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens eine Premiere in der Schweizer Antidoping-Rechtsprechung und kommt zumindest in den rechtlichen Grundlagen des Schweizer Dopingstatuts gar nicht vor.
Was für ein Ausgang?
Vielleicht findet ja irgendjemand einen eleganten Ausweg: Mathias Flückigers Sperre wird aufgehoben, was ihn vom Dopingverdacht befreit, und der Schweizer Antidoping-Behörde wird kein eigentliches Fehlverhalten angelastet, was diese vor hohen Schadenersatzforderungen schützen würde. Eine Art Win-win-Situation in einem Fall, der bisher praktisch nur Verlierer produziert. Oder wie es ein nicht genannt sein wollender Fachexperte sagt: «Was hier passiert ist, schadet der Glaubwürdigkeit des Antidoping-Kampfs.»
Noch keine weitere Auskunft
In einer offiziellen Stellungnahme beteuerte Mathias Flückiger im September seine Unschuld: «Ich habe Zeranol nicht wissentlich zu mir genommen.» Seither herrscht wieder Funkstille. Sein Manager Christian Rocha meinte auf «UE»-Anfrage: «Mat ist überzeugt, dass der Fall mit einem Freispruch enden wird.» Und Rocha weiter: «Mat würde sehr gerne sprechen. Da es sich um einen juristischen Prozess, der andauert, handelt, ist dies aber noch nicht möglich.» (slh)
Von Rainer Sommerhalder