• Juni 2018: Bernhard Heiniger zündet eine Kerze für Moara an. Das Zimmer seiner Tochter blieb seit dem Tag der Entführung bis heute praktisch unverändert. · Archivbild: Thomas Peter

  • März 2022: Bernhard Heiniger und seine Lebenspartnerin Nicole Zaugg geniessen so oft wie möglich die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern Jolina und Julin. Doch für das komplette Familienglück fehlt die zwölfjährige Moara. · Bild: Thomas Peter

24.03.2022
Oberaargau

Das bange Warten auf ein Lebenszeichen

Der Schock und die emotionale Erschöpfung stehen dem 47-jährigen Ursenbacher Bernhard Heiniger auch an diesem Märzabend ins Gesicht geschrieben. Vor vier Jahren wurde seine damals achtjährige Tochter Moara von ihrer eigenen Mutter nach Brasilien entführt. Seither führt er einen schier endlosen Kampf, für Moara als Vater da sein zu dürfen. Ein Kampf, der bis jetzt in den Mühlen der Behörden und Gerichte stecken geblieben ist. Doch aufgeben, das will er nicht. Nie!

Ursenbach · Immer wieder reibt sich Bernhard Heiniger während dem Gespräch intensiv die Augen. Sie wirken müde. Und doch ist in ihnen ab und zu ein verstohlener Glanz zu erkennen, der aber keine Freude, sondern vor allem weggedrückte Tränen erahnen lässt. Zu sehr sind die Erinnerungen wach an den schlimmsten Tag seines Lebens, als sei der erst gestern gewesen. Mit gemischten Gefühlen fuhr er damals am 20. April 2018 nach Genf, um seine Tochter Moara und ihre brasilianische Mutter am Flughafen abzuholen. Das Flugzeug war gelandet, die Passagiere strömten an ihm vorbei, doch keine Spur von Moara und seiner Ex-Frau. «Ich war völlig aus dem Häuschen. Ich habe das Reisebüro kontaktiert, das mir die Rückflugdaten der zwei bestätigte. Doch sie waren nicht da! Ich habe verzweifelt versucht, die Mutter auf dem Handy anzurufen und auch die Grossmutter in Brasilien. Doch ich habe niemanden erreicht. Natürlich!», schildert Bernhard Hei­ni­ger die bangen ersten Minuten.

Freund der Mutter unterstützte sie
Obwohl ihm in diesem Augenblick der Boden unter den Füssen zu schwinden drohte und er alles nicht wahrhaben wollte, so war er letztendlich doch nicht überrascht. «Meine Befürchtungen haben sich bestätigt.» Er liess Moara nur mit sehr ungutem Gefühl nach Brasilien reisen. Er versuchte abzusichern, was sich absichern liess. Flugnummer und Flugbestätigung, Moara sollte ihn mindestens einmal in der Woche aus Brasilien anrufen. Seine Ex-Frau musste alles mit Unterschrift bestätigen, dass sie dies einhalten werde. H. R., ein guter Freund der Mutter, hat zudem mitgeholfen, dass bei der Reise alles so funktioniert, wie vereinbart. Doch auch ihn konnte Bernhard Heiniger am 20. April zunächst telefonisch nicht erreichen. So reiste er vom Flughafen direkt zu ihm nach Grenchen. Aber seine Familie wusste nicht, wo er sich befindet. Erst viel später klappte es mit dem Anruf. «Es stellte sich schliesslich heraus, dass alles mit seiner Hilfe so geplant war. Damit war für mich klar, dass es sich um eine Entführung handelt», ist Bernhard Heiniger von H. R. zutiefst enttäuscht. «Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Beihilfe zur Entführung, doch ist er inzwischen wohl untergetaucht.»

2012 mit Moara im Männerhaus
Doch wie konnte es soweit kommen, dass die Mutter ihre eigene Tochter entführt? «Ich vermute, sie hatte Angst, dass sie Moara für immer verlieren könnte.» Im Januar 2018 war von einem Schweizer Gericht entschieden worden, dass Moara definitiv beim Vater leben und die Mutter noch ein Besuchsrecht erhalten soll. Die unschöne Vorgeschichte geht aber um einige Jahre weiter zurück. «Im Jahre 2012 war ich mit Moara ins Männerhaus geflüchtet wegen häuslicher Gewalt.» Dies führte zum definitiven Bruch der Ehe, die 2015 geschieden wurde. Damals, 2012 nach der Trennung, erhielt Moara einen Beistand, «weil sich Vater und Mutter nicht mehr in die Augen schauen konnten», so Bernhard Heiniger. Wenig später wurde eine Frau als Beiständin hinzugezogen, die sich mit Mutter und Tochter getroffen und einen entscheidungsträchtigen Bericht für die zuständige Behörde und das Gericht verfasste. «Unglaublich, einen so wichtigen Bericht zu schreiben, ohne je mit dem Vater gesprochen zu haben. Und dies geschieht ausgerechnet bei einer offiziellen Behördenstelle, wo man eigentlich am meisten Hilfe für das Wohl des Kindes erwartet», ist Heinigers Lebenspartnerin Nicole Zaugg noch immer entsetzt. «Ich habe damals gekocht vor Wut», gibt Bernhard Heiniger unumwunden zu. Er habe mit der Beiständin telefoniert und dabei sei deutlich geworden, «dass sie keine Ahnung über das reale Umfeld hatte, in dem Moara bei ihrem Vater lebt und welche Beziehung sie zu mir hat.» Dafür sei die Unterstützung durch die Erziehungsberatungsstelle in Langen­thal umso hilfreicher gewesen, sodass schliesslich im Dezember 2019 das alleinige Sorgerecht dem Vater übertragen wurde. Ein später Lichtblick.

Lebt die Tochter noch?
Doch die ersten Tage, Wochen und Monate nach der Entführung im April 2018 waren für Bernhard Heiniger schlicht die Hölle. «Ich habe zu Beginn fast täglich versucht, Moara, ihre Mutter und ihre Grossmutter per Telefon oder WhatsApp zu erreichen. Alles ist ignoriert worden. Drei Monate lang habe ich nicht gewusst, ob sie überhaupt noch lebt.» Ratlosigkeit, Trauer und auch Wut machten sich breit. «Wie kann eine Mutter ihrem Kind so etwas antun?» Nachreisen sei für ihn damals keine Option gewesen, nicht nur aus finanziellen Gründen. Einen Monat nach der Entführung kam Moaras Halbbruder Julin auf die Welt. «Ich konnte und wollte meine Familie in diesem Moment nicht im Stich lassen, da sie mich gerade dann brauchte und ich sie nicht auch noch verlieren wollte», musste sich Bernhard Heiniger damals eingestehen und dabei erinnert er sich wehmütig an das Freudestrahlen von Moara, als er ihr erzählt hatte, dass sie ein weiteres Halbgeschwister bekommen werde. Moara fragte ihn damals, warum sie denn Tränen in den Augen habe, wenn sie sich doch so fest freue.
Die psychische und physische Belastung war für Bernhard Heiniger letztlich so happig, dass er psychologische Hilfe in Anspruch nehmen musste, Der Schreiner musste auch Lohnausfälle hinnehmen, da er nicht mehr voll arbeiten konnte. «Aber irgendwie muss man funktionieren. Ich habe eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die auf mich zählt.» Das sei ihm aber sicher nicht immer gelungen, ist er sich im Klaren.

Videoanruf von Moara
Völlig überraschend und aus heiterem Himmel, Bernhard Heiniger war mit seiner Familie gerade im Auto unterwegs, erhielt er am 1. August 2020 einen WhatsApp-Videoanruf von Moara. Der erste wahrnehmbare Kontakt seit der Entführung. Ein unglaublicher Moment. «Während den nächsten zwei Monaten hatten wir fast täglich Kontakt. Es war so schön, fast wie früher. Ich spürte, dass das Band mit dem Vater noch da ist, auch wenn sie nur portugiesisch und nicht berndeutsch sprechen wollte.» Immer mehr entstand der Eindruck, dass die Mutter im Hintergrund aktiv mithörte. «Als ich Moara fragte, ob sie uns auch vermisst und noch gern hat, sagte sie nichts, hob aber beide Daumen hoch.» Nach diesen zwei Monaten wurde es markant ruhiger. »Bei den folgenden seltenen Anrufen stellte sich jeweils heraus, dass die Mutter vor allem Geld wollte und dies durch die Anrufe zu erreichen suchte.» Die Mutter habe denn auch Anzeige erstattet wegen fehlenden Unterhaltszahlungen sowie Anwaltskostenübernahme. Das Gerichtsverfahren steht noch aus. Seit September 2021 hat Bernhard Heiniger von Moara nichts mehr gehört. Wo sie genau lebt, weiss er auch nicht. Er wisse nur, in welcher Stadt, aber ihre Adresse wurde ihm aus Datenschutzgründen nie bekanntgegeben.

Die Mutter bleibt immer die Mutter
Stand eine Zurückentführung von Moara jemals zur Diskussion? «Ja, ich habe damals tatsächlich daran gedacht», lässt Bernhard Heiniger durchblicken. Doch kannte er ihre Adresse gar nicht. Er wisse nur, in welcher Stadt sie lebt, aber Genaueres wurde ihm aus Datenschutzgründen nie bekanntgegeben. Eine Option wäre gewesen, einen Detektiven damit zu beauftragen, was aber schon aus finanziellen Gründen nicht realistisch war. Doch hätte er gegenüber Moara das überhaupt erklären und rechtfertigen können? Schliesslich ist sie die Tochter ihrer Mutter und wird es auch immer  bleiben. «Zudem hat mir das Bundesamt für Justiz (EJPD) klar gemacht, dass ich das zwar machen könne, dafür aber gleich ins Gefängnis gehen müsse. Ja, in dieser Hinsicht sind sie dann sehr schnell.»

Gerichtsverhandlung in den nächsten Tagen
Ansonsten musste er aber feststellen, dass die Mühlen der Justiz sehr, sehr langsam mahlen. Dreieinhalb Jahre seien vergangen, seit er Anzeige wegen «Entzug einer Minderjährigen» erstattet und eine Rückführung gemäss Haager Kindesentführungsübereinkommen beantragt habe. Das EJPD habe in dieser Zeit aber lediglich als übermittelndes Sprachrohr fungiert und nicht seine Interessen aktiv gegenüber Brasilien vertreten oder ihm irgendwelche Tipps gegeben, was er unternehmen könne. Immerhin habe das EJPD im Juni 2021 einen Kontakt zwischen Bernhard Heiniger und einem brasilianischen Staatsanwalt hergestellt, der nun den Fall vorantreibt.
In den nächsten Tagen soll in Brasilien nun tatsächlich der Fall vor Gericht verhandelt und entschieden werden. Mit welchem Ausgang? «Ich möchte, dass Moara das Recht wahrnehmen kann, dass sie eine Mutter und einen Vater haben darf. Ich möchte, dass ich meine Rechte und Pflichten wahrnehmen und ihr in allen Lebenslagen als Vater zur Seite stehen darf. Egal, ob Moara zu uns zurückkehren wird oder nicht, ich möchte endlich einen Entscheid vom Gericht, damit ich wieder zur Ruhe kommen darf. Ich hoffe, dass ich die Möglichkeit erhalten werde, wieder einen normalen Kontakt zu ihr haben zu dürfen.»

Riesige Solidarität beim Crowdfunding
Der Kampf um seine Tochter hat Bernhard Heiniger nicht nur ungezählte schlaflose Nächte gekostet, sondern auch eine grosse finanzielle Lücke hinterlassen. Gegen 30 000 Franken Anwalts-, Gerichts- und Übersetzungskosten hat er in diesen vier Jahren aufwenden müssen. Für die junge Familie ein happiger Betrag. Deshalb hat die Familie vor wenigen Tagen ein Crowdfunding ins Leben gerufen und war vom Echo und der Solidarität überwältigt. Bereits innert zehn Stunden seien 9000 Franken einbezahlt worden, der Betrag, den die Familie allein in diesem Jahr aufwenden musste. Inzwischen sind es über 20 000 Franken «Wir haben das nie erwartet», ist Bernhard Heiniger bewegt. «Wir sind so dankbar für die Unterstützung und die entgegengebrachte Solidarität.» Das Crowdfunding läuft noch bis am 27. April. Bis dann sollte auch der Gerichtsentscheid in Brasilien gefällt sein. https://wemakeit.com/projects/rueckfuehrung-moara?locale=de

Von Thomas Peter