• Ein Gemälde des ehemaligen Langenthaler Zehntspeichers, in dem die Notfallstube untergebracht war. Das Bild entstand, als sich der Zehntspeicher bereits in Roggwil befand. · Bilder: Walter Ryser/zvg

  • Ein Stück Oberaargauer Spital-Geschichte verschwindet: Die ehemalige Langenthaler Notfallstube wird abgerissen.

11.01.2021
Oberaargau

Das erste Spital fällt dem Bagger zum Opfer

Das Gebäude an der St. Urbanstrasse 69/69a in Roggwil war unscheinbar und deshalb haben viele den Abriss der Liegenschaft kaum zur Kenntnis genommen. Dabei wurde hier ein geschichtsträchtiges Gebäude entfernt, handelte es sich doch um das erste Spital im Oberaargau, das bis 1876 an der heutigen Spitalgasse 25 in Langenthal stand und als Notfallstube diente.

Roggwil/Langenthal · Die Bauarbeiter verrichten wie gewohnt ihre Arbeit. An der St. Urbanstrasse 69/69a in Roggwil gilt es, eine Liegenschaft abzureissen. Auf die Frage des anwesenden Journalisten, ob sie denn wüssten, was für ein Gebäude sie hier entfernen würden, zuckt der eine mit den Schultern und schaut ob dieser Frage leicht verdutzt den Journalisten an, während der zweite Bauarbeiter vor Ort mit einem La­chen im Gesicht und voller Stolz verkündet: «Klar doch, wir entfernen gerade das erste Langenthaler Spital.» Wow, da hat sich der Bagger aber an historischen Mauern «vergriffen».

Dürftig ausgestattete Notfallstube
Das Gebäude, das einer neuen Gewerbeüberbauung weicht, hat eine geschichtsträchtige Vergangenheit, die vermutlich nur den wenigsten Rogg­wilern und noch weniger Langen­thalern bekannt sein dürfte. Denn das Abbruchobjekt hat eine bedeutsame Vergangenheit, wie Hanspeter Vogt, ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik am SRO-Spital in Langenthal, gegenüber dem «Unter-Emmentaler» zu verstehen gibt. «Das Gebäude war ursprünglich der obrigkeitliche Zehntspeicher in Langenthal und stand bis 1876 am Standort, wo das Holligerhaus (heute Depot) an der Spitalgasse 25 steht, und diente hier als Notfallstube, womit das Gebäude das erste Spital in Langenthal war», erläutert Vogt. 1835 erliess der Grosse Rat des Kantons Bern das Dekret über die Errichtung von Notfallstuben, um die Bevölkerung bei Krankheit und Unfall ortsnah versorgen zu können.
Auch in Langenthal wurde eine solche Notfallstube eröffnet, am beschriebenen Standort, im stattlichen Zehntspeicher, der damals an diesem Ort stand. Es war das erste Spital in Lan­genthal. Wann die Notfallstube bezogen wurde, kann nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. Der Tag muss zwischen dem 26. November, an dem das Reglement angenommen wurde, und dem 26. Dezember 1836 liegen, an dem die Existenz der Notfallstube zum ersten Mal in einem Regierungsprotokoll bezeugt ist. Einrichtungen und Betrieb unterstanden dem Staat. Dieser leistete auch alle Zahlungen.
Das Notspital bestand aus einem Krankenzimmer und der Wärterwohnung. Beide muss man sich für heutige Verhältnisse dürftig ausgestattet vorstellen. In der Notfallstube drängten sich zehn Betten, zu denen als Inhalt je eine Matratze, ein Strohsack, ein Kopfkissen, eine Wolldecke und ein Deckbett gehörten. Der Raum war durch eine spanische Wand unterteilt, wohl um die Geschlechter zu trennen. Verköstigung und Betreuung der Patienten waren dem Wärterehepaar anvertraut. Es bestritt anfänglich den ganzen Betrieb mit dem Kostgeld, das ihm vierteljährlich vom Kassier der Aufsichtskommission für jeden Kranken ausbezahlt wurde. Der Pflegetag kam auf sieben Batzen zu stehen.

Kranke vernachlässigt und beleidigt
Weil die Erfahrung zeigte, dass das Wärterehepaar der Versuchung nicht widerstehen konnte, das Pflegegeld im eigenen Interesse zu verwenden, über­nahm die Anstaltsleitung selbst die Führung des Betriebs und setzte dem Dienstpersonal eine feste Jahresbesoldung von 1000 Franken aus. Den medizinischen Dienst versah gemäss dem neugeschaffenen kantonalen Spitalreglement ein Platzarzt. Als erster amtete Dr. Schneeberger für zehn Batzen im Tag. Dieser muss gegen Ende seiner Tätigkeit ermüdet nachgelassen haben und reizbar geworden sein, denn es wurden Klagen gegen ihn laut, dass er die Kranken nachlässig betreue, oft erst am Abend besuche, zuweilen beleidigende Bemerkungen mache und Patienten ungeheilt – einen mit einem gebrochenen Schlüsselbein – entlasse.
Die Patienten waren mit wenigen Ausnahmen Gemeindearme. Sie hatten dies mit einem von den Heimatbehörden ausgestellten «Armuthschein» zu bezeugen. Das Einzugsgebiet der Lan­genthaler Notfallstube war gross. Im Jahre 1861 stammten 75 Patienten aus dem Amt Aarwangen, 23 aus Wangen, vier von Burgdorf, einer aus Trachsel­wald, einer war aus Solothurn gebracht worden, zwei aus dem Baselland und sieben hatten auf der Durchreise ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Die durchschnittliche Pflegedauer betrug in jenem Jahr 28 Tage.

Spital Langenthal entsteht
Es verwundert deshalb nicht, dass gerade Arbeitsüberlastung des Personals und Raumnot die Gründe waren, die Ende der 1860er-Jahre auf eine Erweiterung der Notfallstube drängten. Erste Sondierungen in Bern zeigten aber, dass mit einer zusätzlichen finanziellen Beteiligung des Staates nicht gerechnet werden durfte. Daher entschloss sich die Langenthaler Wochentagsgesellschaft auf die freie Lie­bes-
tätigkeit zu bauen und Geldsammlungen zu veranstalten. Ein hiezu bestellter Ausschuss, bestehend aus den Herren Regierungsstatthalter Geiser, Hector Egger, Commandant Lüscher, Dr. Marti, Dr. Geiser und Grossrat Herzog billigte dieses Vorgehen, kam aber zum Schluss, an der Anstalt im Zehntspeicher nichts mehr zu verändern und einen Neubau zu wagen.

Notfallstube zügelt nach Roggwil
Am 24. April 1870 hiess eine Versammlung von Abgeordneten aller Gemeinden im Amtsbezirk Aarwangen diesen Vorschlag gut. Damit war der Grundstein zum heutigen Spital in Langenthal gelegt. Am 18. November 1875 war das neue Spital auf der Mühlematte bezugsbereit. Es wies 40 Betten auf. Die Baukosten betrugen 130 000 Franken. Damit hatte die Notfallstube ausgedient. Zugleich waren die Tage des Zehntspeichers gezählt.
Der Zimmermeister Johann Wanner von Roggwil hat das Objekt am 20. November 1875 für 3800 Franken gekauft und mit der Auflage erstanden, es aus der Gemeinde Lan­genthal wegzunehmen, damit man dieses an der bisherigen Stätte nicht mehr sehen kann. Es wurde an der St. Urbanstrasse 69 in Roggwil wieder errichtet und am 6 Dezember 1875 fertiggestellt. Am 1. März 1878 verkaufte Johann Wanner das Gebäude und das umliegende Ackerland für 16 500 Franken an Jakob Nyffen­egger, Schmied zu Roggwil. Es diente fortan als Schmiede und Wagnerwerkstätte und im ersten Stock als Wohnhaus. Es blieb lange im Besitz der Familie Nyffenegger.
Die Langenthalerin Barbara Ruckstuhl verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in der ehemaligen Notfallstube, wenn sie jeweils bei ihrer Grossmutter zu Besuch war oder hier Ferien verbrachte. «Unser Grosi hat uns einmal erzählt, wozu das Haus früher gedient hat, doch das habe ich in all den Jahren vergessen, bis zu jenem Zeitpunkt, als im Museum in Langenthal eine Ausstellung über das Gesundheitswesen im Oberaargau stattfand. Da sind bei mir Erinnerungen wach geworden an jene Zeit, als ich beim Grosi in den Ferien weilte und sie uns Geschichten über ihr Haus erzählte», erinnert sich die 54-jährige Langenthalerin. Quelle: Jahrbuch des Oberaargaus

Von Walter Ryser