Das nötige Feuer brennt nicht mehr
Schluss. Aus. Vorbei: Géraldine Ruckstuhl tritt per sofort vom Spitzensport zurück. Nach grossartigen Erfolgen im Siebenkampf und im Speerwerfen zieht die 26-jährige Altbürerin einen Schlussstrich. Das Feuer für die Leichtathletik auf Weltniveau brennt nicht mehr.
Leichtathletik · «Ich übe die Leichtathletik aus, weil ich grossen Spass daran habe und mich sehr gerne in der Natur bewege», sagte Géraldine Ruckstuhl als 15-Jährige. Damals, im Jahr 2013, ging ihr Leichtathletik-Stern so richtig auf. «Géri» erzielte für ihr Alter überragende Leistungen und wurde fünffache Schweizer Meisterin. Nun ist dieser Spass an der Leichtathletik weg. «Es dauerte einige Zeit, bis ich begriffen habe, woran es liegt, dass ich nicht mehr so richtig auf Touren komme. Nun ist es mir klar. Ich akzeptiere es – auch wenn es hart ist. Ich verspüre das notwendige Feuer und die Leidenschaft, um an Leichtathletik-Wettkämpfen Bestleistungen erbringen zu können, schlicht nicht mehr. Das Ganze macht mich nicht mehr glücklich», sagt die 26-Jährige unverblümt. «Was bringen dir all die Medaillen, wenn du nicht mehr dafür brennst, was du tust?» Eine nachvollziehbare Frage.
Leichtathletik 17 Jahre lang im Fokus
Seit September 2007, als Ruckstuhl als 9-Jährige in Reussbühl ihren ersten Wettkampf auf Anhieb gewann, drehte sich im Leben der gebürtigen Altbürerin fast alles um die Leichtathletik. Via Mukiturnen und Geräteturnen stiess Ruckstuhl damals beim STV Altbüron zur Leichtathletik. Mit ihrer unbeschwerten, aber zugleich völlig fokussierten Art wurde Géraldine Ruckstuhl blitzschnell vom Rohdiamanten zur Topathletin. Zuerst auf nationaler und dann sogar auf internationaler Ebene. Dass nach so langer Zeit die Leidenschaft nachlassen kann, ist verständlich. Körperlich wäre Ruckstuhl immer noch parat. «In den Trainings erzielte ich starke Resultate. Aber das nötige Herzblut zum weiteren Ausüben der Leichtathletik fehlt.» Und Ruckstuhl bleibt sich treu: «Ich bin eine Person, die entweder Vollgas und immer 100 Prozent gibt – oder es lieber sein lässt.»
Gigantische Erfolge
Die vielseitig begabte Géraldine Ruckstuhl setzte im Siebenkampf neue Massstäbe, erzielte Jahr für Jahr frappante Leistungssteigerungen. Im Juli 2015 im kolumbianischen Cali wurde die damals 17-Jährige als erste Schweizerin der Leichtathletikgeschichte U18-Weltmeisterin. Unvergessen bleibt auch der Empfang in Altbüron am 31. Juli. Das ganze Dorf war damals auf den Beinen, um «seine» Jahrhundertathletin zu würdigen.
Im Juli 2017 gewann Géraldine Ruckstuhl im italienischen Grosseto die Siebenkampf-Silbermedaille an der U20-EM. Ruckstuhls Paradedisziplin war das Speerwerfen. Am bekannten Mehrkampfmeeting in Götzis zwei Monate vor der U20-EM segelte das 600 Gramm schwere Objekt auf 58,31 m. Diesen Schweizer Rekord hält «Géri» noch heute. Im gleichen Jahr belegte sie an ihrer ersten Elite-WM in London vor 60 000 Zuschauenden den 11. Rang. «Géri» war damals der Shooting Star der Schweizer Leichtathletik. Sie war am Super-10-Kampf der Schweizer Sporthilfe mit dabei und Gast im Sportpanorama. Ruckstuhl hatte Dauerpräsenz in den Medien. Sie wurde 2017 an den Schweizer Sport Awards bei der Wahl «Newcomer des Jahres» hinter Eishockeyspieler Nico Hischier Zweite.
Ein Familienmensch
Im Juli 2019 wurde Géraldine Ruckstuhl im schwedischen Gävle U23-Europameisterin im Siebenkampf. An der Elite-WM im Oktober in Doha in Katar resultierte der 9. Rang. Ausserdem gewann die Ausnahmeathletin in ihrer Karriere über 40 Schweizer Meistertitel, sammelte um die 70 SM-Podestplätze. Am jährlichen Club 88-Sportpreis Region Huttwil wurde Ruckstuhl sieben Mal ausgezeichnet (darunter viermal als Sportlerin des Jahres). «Für mich waren die Erfolge, die einen grossen Bezug zu meiner Familie – die mir alles bedeutet – hatten, die schönsten», so Ruckstuhl. «So gesehen war der WM-Titel 2015 in Kolumbien mein sportliches Highlight. Aber nicht wegen der Goldmedaille, sondern weil ich den Grosserfolg am Geburtstag meiner ebenfalls in Cali anwesenden Mutter geschafft habe. Ich konnte ihr damit das schönste Geburtstagsgeschenk bereiten.»
Nicht immer eitel Sonnenschein
Wie in jeder Sportkarriere herrschte auch bei Géraldine Ruckstuhl nicht dauerhaft eitel Sonnenschein. Sie hatte mit Verletzungen zu kämpfen. Im März 2016 erlitt sie bei einem Sturz beim Hürdentraining einen Riss im Dünndarm, der eine Operation und eine lange Pause mit sich brachte. 2021 erlitt sie eine Fussverletzung. Mit gravierenden Folgen: Die Olympischen Spiele 2021 in Tokio gingen ohne sie über die Bühne, weil die Schweizer Selektionäre die Altbürerin wegen der Fussverletzung als nicht olympia-tauglich eingestuft hatten. «Das war der traurigste Moment meiner Karriere», sagt Ruckstuhl. «Ich hatte mich sportlich qualifiziert, war für die Titelkämpfe bereit. Mit der Nichtselektion haben mir die Verantwortlichen das Herz herausgerissen.»
Als grosse Kämpferin fasste Ruckstuhl wenig später die Olympischen Spiele 2024 in Paris ins Auge, krempelte ihr gesamtes Leichtathletik-Umfeld um. Sie verlegte ihren Wohnort nach Oerlikon und wurde Trainingsmitglied des Nationalen Leistungszentrums Zürich. «Nun wollte ich es erst recht noch einmal wissen.» Doch die Unverkrampftheit der Jahre zuvor war weg. Zahlreiche kleinere Verletzungen, zwei Corona-Erkrankungen mit negativen Langzeit-Auswirkungen sowie Grippe-Erkrankungen verhinderten immer wieder eine Rückkehr in den gewohnten Wettkampf-Alltag. So kam es, dass Géraldine Ruckstuhl in den letzten vier Jahren nur noch gerade einen einzigen Siebenkampf – im Jahr 2022 im französischen Talence – bestreiten konnte.
Zenit nicht erreicht
Nun, vier Monate vor dem eigentlichen Karriereziel, den Olympischen Spielen in Paris, hat Géraldine Ruckstuhl einen Schlussstrich gezogen. «Ich habe mich entschieden, meine Leichtathletik-Karriere zu beenden. Ich bin allen sehr dankbar, die mich auf meinem sportlichen Weg begleitet haben», so Ruckstuhl. «Ich bin stolz darauf, was ich alles erreicht habe. Auf der anderen Seite fuchst es mich schon, denn ich bin überzeugt, dass ich meinen Zenit noch nicht erreicht habe. Es wäre noch mehr möglich. Aber ohne die Leidenschaft funktioniert es natürlich nicht.»
Viele andere Sportaktivitäten
Der Rücktritt vom Leichtathletik-Leistungssport ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Sportkarriere von Géraldine Ruckstuhl. «Ich war immer ein Bewegungsmensch. Ich liebe den Sport und freue mich jetzt einfach darauf, ohne Leistungsdruck viel ausprobieren zu können – mit Leidenschaft.» Voller Vorfreude sprudelt es aus Ruckstuhl heraus: «Rennvelofahren, Unihockey, Crossfit, Basketball, Eishockey, Handball oder Volleyball – ich habe auf vieles Lust.» «Géri» hat sich schon ein Rennvelo gepostet und für die Säntis Classic im Juni angemeldet. Mit ihrer läuferisch aktiven Mutter hat Ruckstuhl bereits ein Projekt vereinbart. «Wir planen, 2025 gemeinsam den Marathon von Athen zu laufen.» Eine spätere Rückkehr zum STV Altbüron – ihren sportlichen Wurzeln – und das Mitmachen in dessen polysportlichen Trainings schliesst sie nicht aus.
Privat keine Veränderungen
Im privaten Bereich will Géraldine Ruckstuhl momentan alles so belassen, wie es ist. Sie wohnt mit ihrem Lebenspartner Silas in Oerlikon und geht einer 60-Prozent-Stelle bei Smart Rebels nach. Das Geschäftsfeld dieser Firma ist die Künstliche Intelligenz. «Ich bilde Leute aus, wie sie die KI im Alltag sinnvoll anwenden», erklärt Ruckstuhl. «Ich bin eine offene und neugierige Person, die sich vor Neuem nicht verschliessen will», begründet sie ihren aussergewöhnlichen Beruf. Die letzten Monate, ja sogar Jahre waren für Géraldine Ruckstuhl eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Nach der Verkündung des Rücktritts verspürt die eigentliche Frohnatur eine grosse Erleichterung. Géraldine Ruckstuhls Feuer und Leidenschaft ist immer noch da. Einfach nicht mehr für die Weltbühne der Leichtathletik.
Von Stefan Leuenberger