• Nach einer taktischen und mentalen Meisterleistung gewann Nicole Egger aus Langenthal im Oktober in Belp in ihrem erst zweiten Halbmarathon die SM-Goldmedaille.

  • An der Schweizermeisterschaft über 5000 m holte Nicole Egger die Bronzemedaille. Auf dem Bild läuft sie direkt hinter Triathlon-Olympiasiegerin Nicola Spirig.

  • Egal an welchem Rennen (auf dem Bild am Grand-Prix von Bern 2019): Die Langenthaler Laufsport-Spätzünderin Nicole Egger ist überall in den vordersten Positionen anzutreffen. · Bilder: Stefan Leuenberger, Jörg Oegerli, Christian Staehli

05.11.2020
Sport

Das Phänomen sammelt eifrig Medaillen

Nicole Egger, Laufsportlerin aus Langenthal – Die 35-jährige Nicole Egger darf zweifelsohne als kleines Phänomen bezeichnet werden. Erst 2014 – als 29-Jährige – begann die Langenthalerin mit dem Laufsport. Im Gegensatz zu jenen Athletinnen, welche von Jugendalter an im Leistungssport tätig sind, ist die Freude und der Ehrgeiz bei Nicole Egger noch frisch. Und dies münzt sie in Erfolge um. 2020 gewann sie dreimal SM-Bronze und als Krönung nach einer taktischen und mentalen Meisterleistung den Schweizermeistertitel im Halbmarathon.

Laufsport · «Mein wertvollster Schweizermeistertitel bisher», wertet Nicole Egger. «Natürlich war mein erster Titel an der Cross-SM 2018, der völlig überraschend kam, schön. Doch als Nichtspezialistin gegen die Favoritinnen die Halbmarathon-SM zu gewinnen, ist schon ganz speziell – und freut mich sehr.» Im SM-Rennen von Mitte Oktober auf dem Gelände beim Flughafen Belp lieferte die Laufsport-Spätzünderin taktisch und mental ein Glanzstück ab. Gleich nach dem Start gaben die Kronfavoritinnen Martina Strähl und Nicola Spirig zusammen mit einer Vaduzerin ein horrendes Tempo vor und setzten sich ab. «Ich wollte einfach mein Tempo gehen und nicht schon zu Beginn überpacen», sagt Egger. Kein Wunder, denn die Spezialistin auf den Distanzen 5000 bis 10 000 m lief an der SM ihren erst zweiten Halbmarathon der Karriere (bei der Premiere in Lausanne 2017 lief Egger die Strecke in 1:19 Stunden). «Es war mental nicht einfach. Ich sah die drei vor mir liegenden Konkurrentinnen zwar meist, doch der Abstand blieb gleich oder wurde mehr.»  

Mit Kopfkino zum Titelgewinn
Nun begann das Kopfkino. Und in diesem spielte Nicole Egger die Hauptrolle glänzend. «Geduld haben und einfach im gleichen 3:30-Minuten-Schnitt kontrolliert weiterlaufen, habe ich mir immer wieder gesagt.» Jüngere Läuferinnen wären mental zerbrochen und hätten einen taktischen Fehler gemacht. Nicht die 35-jährige Nicole Egger. Auf einmal kam die Langenthalerin den Spitzenläuferinnen, welche nun für ihr forsches Einstiegstempo büssten, näher. «Ab diesem Moment hatte ich nur noch Silber im Kopf.» Tatsächlich schloss die für ihren Ehrgeiz bekannte Egger zu Michèle Gantner und Olympiasiegerin Nicola Spirig auf – und liess sie sodann stehen. Nicht genug: Die nun auf Silberkurs liegende Langenthalerin lief im Hoch und kam auch der in Führung liegenden Vereinskollegin Martina Strähl auf den letzten sieben Kilometern stetig näher. «Ich überholte Martina und zog den letzten Kilometer in 3:19 Minuten voll durch», erzählt Egger von ihrem Meisterstück. «Das Gefühl, aus einer hoffnungslosen Situation noch zu Gold gelaufen zu sein, war überwältigend.» Und gerade dieser unglaubliche Rennverlauf bis zum Schweizermeistertitel in starken 1:13 Stunden erklärt es, weshalb das vierte SM-Gold – die zwölfte SM-Medaille insgesamt – für Nicole Egger ihr bisher wertvollstes ist.

Vielseitigkeit bringt den Erfolg
Die Coronasaison 2020 verlief für das Mitglied der LV Langenthal aufgrund der happigen Vorgeschichte äusserst erfolgreich. Kurz nach dem Jahreswechsel zog sich die Ausdauersportlerin einen Muskelfaserriss zu. Ende Januar kam eine Gürtelrose hinzu. Eine Herzentzündung zwang Egger dann zur sportlichen Untätigkeit bis im April. «Im Lockdown keinen Sport treiben zu können, war sehr hart», sagt Egger. Nach einem ärztlichen Aufbauplan kehrte die ehrgeizige und trainingsfleissige Nicole Egger beeindruckend schnell an die Spitze zurück. «Die schnelle Rückkehr war nur möglich, weil ich meine läuferischen Einheiten stark dosierte», erklärt Egger. «Ich habe spät mit dem Leistungssport begonnen. Mein Bewegungsapparat konnte mit meinen leistungsmässigen Fortschritten nicht mithalten. Dadurch bin ich anfällig.» Egger achtet deshalb bei ihren Trainings auf Abwechslung durch vielseitige Belastung. Lauftechnik, Krafttraining, Stepper, Rennvelo (Egger besitzt eine Rolle in der Wohnung), Inline-Skaten, Rudern oder Schwimmen sowie in der Wintersaison Skifahren gehören zum abwechslungsreichen und deshalb den Körper schonenden Trainingsprogramm. Um solche Topleistungen abzuliefern, wie es Nicole Egger immer wieder gelingt, sind allerdings sechs bis zehn Trainings pro Woche notwendig. Neu verfügt Nicole Egger mit dem Ostermundiger Hanspeter Ryser über einen eigenen Trainer.

Vier SM-Medaillen geholt
Obwohl im Jahr 2020 wegen Covid-19 viel weniger Wettkämpfe stattfinden konnten, ist Eggers Erfolgspalmarès beeindruckend. Im Juni gewann sie in Uster SM-Bronze über 10 000 m auf der Bahn. Dann folgte im September in Basel SM-Bronze über 5000 m. Im gleichen Monat gewann Nicole Egger an der 10 km-Strassenlauf-SM in Belp die dritte SM-Bronzemedaille in diesem Jahr. Die Krönung folgte mit dem beschriebenen SM-Gold im Halbmarathon. Eine weitere SM-Medaille wäre an der in den November verschobenen Cross-SM in Regensdorf möglich gewesen. Diese wurde wegen der Covid-19-Situation auf März 2021 verschoben. «Ich bin nicht unglücklich darüber. Es war nötig, dass ich eine Trainingspause einlegen konnte. Ich muss immer auf meinen Körper achten.» Ist die Pause beendet, will Nicole Egger im Hinblick auf das kommende Jahr einen sauberen Aufbau starten. «Als Ausdauersportlerin, welche die meisten Trainings alleine und im Freien absolvieren kann, bin ich von der Coronakrise nicht betroffen, wie andere Sportler», sagt die Single-Frau. «Was derzeit nicht mehr möglich ist, sind die Kraftlektionen im Fitnesscenter. Ich kann aber problemlos darauf verzichten, verfüge über Alternativen.»

Baustelle Ernährung
Der Lebensinhalt von Nicole Egger besteht vor allem aus Training, Regeneration und Arbeit. «Für viel mehr reicht die Zeit tatsächlich nicht aus», bestätigt die 50 Prozent als Heilpädagogin an der Schule Obersteckholz arbeitende Spitzensportlerin. Der Sport steht im Fokus. Und wo sieht die Laufsport-Spätzünderin für das Jahr 2021 noch Steigerungspotenzial? «Nun, bei der Ernährung könnte ich noch viel verbessern. Ich achte überhaupt nicht darauf, nehme zu mir, auf was ich gerade Lust habe», erklärt Nicole Egger. «Mit einer richtigen Ernährung wäre noch einiges möglich. Handkehrum ist meine Gemütslage super, wenn ich esse, was ich will. Und dies ist für mich ebenfalls sehr wichtig. Wenigstens achte ich immer darauf, dass ich viel trinke.» 

Von Stefan Leuenberger