«Das schaffst du schon»
Interview: Stefan Leuenberger im Gespräch mit Géraldine Ruckstuhl, Altbüron – Die 19-jährige Altbürerin Géraldine Ruckstuhl ist der Shootingstar der Schweizer Leichtathletik. An der WM in London belegte Ruckstuhl im Siebenkampf den 11. Rang. Sie berichtet im «UE»-Interview über ihre Leistungen und besonderen Eindrücke und Erlebnisse.
Leichtathletik · Mit Ihrer frischen Art – dieser Leichtigkeit, wie Sie Topleistungen erbringen – haben Sie das Publikum im Sturm erobert. Bemerken Sie, wie beliebt Sie überall sind, wo Sie auftreten?
Ach, ich bin einfach, wie ich bin und verstelle mich nicht. Ich will auch vor, während und nach einem Wettkampf Lachen können. Ich muss nicht verkrampft dreinschauen. Ich habe Freude an dem, was ich mache. Wenn dies den Leuten gefällt und sie mich unterstützen, freut mich dies natürlich.
Und es tut gut?
Ja, es ist schon cool.
Es könnte durchaus passieren, dass Sie zu einem «Schätzli der Nation» avancieren. So, wie es im Schweizer Sport beispielsweise bei den Skifahrerinnen Erika Hess oder Vreni Schneider oder bei den Kunstturnerinnen Ariella Käslin oder Giulia Steingruber der Fall war.
So etwas strebe ich sicher nicht an. Aber es ist halt schon schön, wenn die Leute Freude daran haben, was ich tue – und mich so herzlich unterstützen.
In der Zeit vor Ihrem U18-WM-Titel 2015 mussten Sie bloss dieser Zeitung Red und Antwort stehen. Mittlerweile hagelt es Medientermine. Sie sind sogar bei ausländischen Medien eine gefragte Person. Wird es Ihnen manchmal nicht zuviel?
Doch. Und gerade deshalb habe ich seit einem halben Jahr eine Medienkoordinatorin. Die Anfragen haben wirklich stark zugenommen und müssen geplant werden. Ich versuche, soviele wie möglich wahr zu nehmen. Doch das Training ist mir wichtiger.
Wie war die Stimmung im Schweizer Team an der WM?
Mit jenen Leuten, mit denen ich zu tun hatte, passte es. Weil die WM so lange dauert, sind aber die Athleten nie alle beisammen. Dies ist etwas schade. Allerdings hatte ich auch fast keine Zeit. Als Siebenkämpferin musst du vor allem auf dich schauen. Darauf, dass im eigenen Wettkampf alles passt.
Sie fahren mit dem Schnellzug an die Weltspitze der Leichtathletik. Macht Ihnen dies manchmal nicht Angst, sind Sie doch erst 19 Jahre alt?
Nach der Verletzung im letzten Jahr hätte ich mir niemals erträumen lassen, jetzt dort zu stehen, wo ich bin. So gesehen bin ich selber von den Fortschritten beeindruckt. An der EM 2014 in Zürich sass ich staunend im Publikum und wünschte mir, selber einmal an einer EM der Elite zu starten. Soeben habe ich an der WM der Elite teilgenommen. Doch, es ist schon krass. Angst davor habe ich aber nicht. Ich strebe die Erfolge ja an, tue mit harten Trainings viel dafür.
Wo soll Sie der Schnellzug hinführen?
An die Olympischen Spiele 2020 in Tokio.
Eine blosse Teilnahme wäre aufgrund Ihrer explosionsartigen Leistungsentwicklung wohl Tiefstaplerei.
Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht, da dieser Anlass noch zu weit weg ist. Doch bereits jetzt ist der Ehrgeiz da, mehr als «nur» die Teilnahme zu erreichen, dies stimmt.
Wie schaffen Sie es, mit 19 Jahren so nervenstark aufzutreten. An der WM haben Sie im Hochsprung die Höhen über 1,77 m und 1,80 m jeweils erst im dritten und letzten Versuch geschafft?
Ich habe einfach gewusst, dass ich diese Höhen im Griff habe. Mit dem Gedanken «du schaffst das schon» bin ich dann zu den erfolgreichen Versuchen angelaufen. Ich hätte in künftigen Wettkämpfen aber nichts dagegen, wenn es nicht immer erst im dritten Versuch klappen würde …
Es regnete. Sie haben sich zwischen den Sprüngen mit einer Decke gewärmt. Der SRF-Kommentator betitelte diese frech als Teppich von daheim …
Hat er wirklich? Nein, es handelt sich um eine Ikea-Decke, welche meine Muskulatur schön warm hält. Wir haben daheim gar keinen Teppich.
In Ihrer Paradedisziplin Speerwerfen haben Sie Ihre Bestweite um über sechs Meter verpasst und trotzdem die fünftbeste Weite erzielt …
Ich spürte die vielen Wettkämpfe der Saison. Mit jeder Disziplin wurde ich müder. So gesehen ist die Weite in der sechsten Disziplin des Wettkampfs in Ordnung. Natürlich wäre bei Vollbestand der Kräfte noch einiges mehr möglich gewesen.
Den 200-m-Lauf am Samstagabend bestritten Sie vor 60 000 euphorischen Zuschauern …
Ich musste vor dem Start lange warten und konnte diese phantastische Stimmung richtig aufsaugen. Auf den letzten Metern des Rennens wurden die Beine schwer. Dort hat mich das Publikum richtiggehend dazu bewogen, bis zur Ziellinie Vollgas zu geben. Einfach genial.
Das Publikum feierte wenige Momente nach Ihrem Lauf den letzten Einzelauftritt des Sprint-Königs Usain Bolt. Wie haben Sie diesen Moment miterlebt?
Leider auf dem Weg zum Bus. Es fuxt mich schon, diesen historischen Moment nicht live miterlebt zu haben. Doch wir mussten flink unsere Sachen packen, um beizeiten ins Bett zu kommen. Ich musste auf meinen eigenen Wettkampf schauen.
Kam es zu Begegnungen mit Leichtathletik-Stars?
Ja – und zwar kurz nach der Ankunft. Beim Anstehen für die Pasta stand plötzlich ein grossgewachsener Athlet neben mir. Es war Usain Bolt. Mehr als ein Hallo kam nicht zustande. Ich war zu baff.
Mit Siebenkampf-Goldgewinnerin und -Superstar Nafissatou Thiam kam es zu keinem Wortwechsel?
Doch. Nach dem Wettkampf konnte ich mit ihr und Silbergewinnerin Carlin Schäfer sogar Fotos machen.
Haben Sie Autogramme eingeholt?
Ja, dies auch.
Und selber verteilt?
Vor dem Hotel haben mich einige Fans darum gebeten.
Sie haben Ihre Dauerrivalin, die ein Jahr jüngere Ukrainerin Alina Shukh, mit letzter Kraft im 800-m-Lauf übersprintet und sie auch im Gesamtklassement hinter sich gelassen. Eine Genugtuung, da Ihnen Shukh an der U20-EM im Juli vor der Goldsonne stand …
Ich stieg nicht mit dem Ziel, Alina zu schlagen, in den Wettkampf. Ich wollte einfach meine zur Zeit bestmögliche Leistung abrufen. Dies ist mir gelungen. Dass ich Alina dabei bezwingen konnte, ist auch im Hinblick auf zukünftige Duelle schön und wichtig. Beim abschliessenden 800-m-Lauf sah ich Alina auf der Zielgeraden vor mir. Der Ehrgeiz war da, sie noch abzufangen. Dies ist mir gelungen.
Mit welcher Ihrer Leistungen sind Sie mit etwas Abstand betrachtet am meisten zufrieden?
Die neue Bestleistung über die 100 m Hürden hat mich speziell gefreut.
Wie ist es in so kurzer Zeit möglich, dass Sie Ihre einstige Baustelle und Sorgendisziplin 800 m langsam aber sicher zu einer Waffe ausbauen?
Diese Disziplin ist für mich kein Müssen mehr. Ich bestreite sie mittlerweile so, dass ich mir vor dem Start sage, dass es die letzte Disziplin ist und ich noch einmal alles aus mir herausholen will. Ich bin im Ziel dann jeweils platt, kann kaum mehr gehen. So habe ich die Gewissheit, das Mögliche getan zu haben. Die viel besseren Zeiten sprechen für diese mentale Taktik. Am Ausdauertraining habe ich nämlich nicht viel verändert. Es ist noch viel Verbesserungspotenzial vorhanden.
Sie werden bald heimreisen. Auf was freuen Sie sich daheim am meisten?
Einfach auf das Zuhausesein. Zu wissen, dass nicht gleich wieder gepackt werden muss. Ich möchte wieder einmal etwas ankommen daheim.
Nach einer kurzen Pause wird der Trainingsalltag einkehren. Dieser umfasst 13 bis 15 Stunden pro Woche, 3 x Technik/Kraft in Altbüron, einmal selbständiges Lauftraining in der Natur, 2 x Fitness/Kraft in Luzern,
1 x Speertraining, Samstagmorgen Kraft/Lauftraining, ab und zu Wassertraining. Bleibt Ihnen noch Zeit für ein Leben neben dem Sport?
Den Sommer über praktisch nicht. Umso mehr geniesse ich die Möglichkeiten während den Wintermonaten.
Dann tun Sie was am liebsten?
Mit meinen Kolleginnen Shoppen, Essen oder ins Kino gehen. Oder mit meinem Freund Zeit verbringen.
Im Herbst rücken Sie in die Spitzensport-Rekrutenschule ein. Weshalb?
Nach abgeschlossener Lehre ist es für mich in der Schweiz die optimalste Variante, Sport zu treiben. Im Anschluss schaue ich, wie es beruflich weiter geht. Nur Sport zu treiben, kann ich mir nicht vorstellen. Ich könnte mir vorstellen, die Berufsmatura in Angriff zu nehmen.