• Dr. phil. Stefanie Becker, Geschäftsführerin von Alzheimer Schweiz. · Bilder: Hans Mathys

09.11.2018
Oberaargau

«Demenz ist nicht heil-, aber behandelbar»

Das 17. Altersforum Oberaargau in Niederbipp vermittelte den vielen Interessierten neben neuesten Erkenntnissen zur Demenz Informationen zu den Angeboten für Senioren. Was ist «Must have», was «Good to have» und was «Nice zu have»?

 

Niederbipp · Käthi Wälchli (Obersteckholz), Präsidentin der Kommission Altersplanung Oberaargau und vom 1. Juni 2002 bis 31. Mai 2018 Mitglied des Grossen Rats des Kantons Bern, freute sich sichtlich über den randvollen Saal im Alterszentrum Jurablick in Niederbipp. Anwesend waren Vertreterinnen und Vertreter der Alters- und Pflegeinstitute, Gemeinden, Spitex-Organisationen, Altersleitbildregionen, Sozial- und Gesundheitsdienste, Kirchgemeinden sowie weitere im Altersbereich tätige Institutionen. Bei der Begrüssung sprach sie die zukünftigen Herausforderungen sowie die zu schaffenden und zu erhaltenden Rahmenbedingungen an, die eine gute Zusammenarbeit unter den Akteuren erfordern würden. Neue Angebote seien nötig. Beat Hirschi, Geschäftsführer des Alterszentrums Jurablick, stellte «seine» Institution vor, die im 30. Betriebsjahr stehe und eine weitere Entwicklungsetappe plane – einen Bau für Physiotherapie und Fitness.

Mangel an Fachpersonal
Infos aus der Gesundheits- und Fürsorgedirektion lieferte deren stellvertretende Generalsekretärin, die in Grächen aufgewachsene und in Brig-Glis wohnhafte, 51-jährige Eveline Zur-briggen. Aufgrund der demografischen Entwicklung sei damit zu rechnen, dass 2045 in der Schweiz rund 30 Prozent der Bevölkerung 65-jährig oder älter sei – eine Million über 80-jährig. «Da müssen wir rechtzeitig parat sein», so Eveline Zurbriggen, die «gute Leistungen zu fairen Preisen» fordert. Unser System sei zurzeit «noch nicht optimal justiert».
Die Walliserin sprach den Mangel an Pflegefachpersonal an und verwies auf die hohen Hürden mit mehrjähriger Berufserfahrung und Weiterbildungen. Personal für die Langzeitpflege zu begeistern, sei schwierig. Dass dieser Beruf aber keineswegs unattraktiv sei, zeige sich, wenn man mit diesen in der Langzeitpflege tätigen Leuten spreche. Diese Attraktivität solle man kommunizieren, nach aussen tragen. Zurbriggen bezeichnete die Finanzsituation im Kanton Bern als «nicht rosig». Umso mehr gelte es, dass der Kanton, die Regionen und die Gemeinden Synergien nutzen und damit Einsparungen erzielen.

Alzheimer häufigste Demenz-Form
«Demenz – heute und morgen», lautete das Referat der 52-jährigen Dr. phil. Stefanie Becker (Geschäftsführerin Alzheimer Schweiz) die vor zwei Jahren in den Vorstand von Alzheimer Europe gewählt wurde. Sie sagte, dass es sich bei Demenz in zwei Dritteln der Fälle um Alzheimer handle, nannte Zahlen sowie Fakten zur Demenz und stellte Neues aus der Forschung vor. Es war 1901, als der deutschen Frau Auguste Deter Alzheimer diagnostiziert wurde – vom Arzt Alois Alzheimer.
Stefanie Becker zeigte am Altersforum die verschiedenen Stadien der Demenz auf. Drei bis vier Jahre nach dem Beginn würden sich deutliche Symptome zeigen, nach sechs bis acht Jahren sei die Pflegebedürftigkeit so gross, dass die Einweisung in ein Pflegeheim nötig werde. Nach neun bis zwölf Jahren führe die Demenz meist zum Tod.

«Frühe Diagnose ist entscheidend»
«Eine frühe Diagnose ist das Entscheidende», sagte Stefanie Becker und riet, bei Demenz-Verdacht gleich zum Arzt zu gehen, zumal es sich auch um eine Stoffwechsel-Störung handeln könne. «Für die Demenz gibt es zwar keine Heilung, aber es ist nicht so, dass man nichts machen kann», ergänzte sie. Mit der Diagnose würden die Betroffenen zwar erfahren, dass ihre Befürchtung eingetroffen sei, was aber für viele dann sogar eine Art Erleichterung bedeute. Es seien Medikamente auf dem Markt, die dazu beitragen würden, die Demenz einzudämmen. Medis würden den Krankheitsverlauf verlangsamen und damit zu mehr Lebensqualität beitragen. Auf einen Nenner gebracht: «Demenz ist eine Krankheit, die gegenwärtig zwar nicht heil-, aber behandelbar ist.»
Das Demenz-Risiko steige mit zunehmendem Alter. Ab Alter 65+ würden neun Prozent unter einer Demenz leiden, ab Alter 85+ seien es bereits 30 Prozent. In der Schweiz würden knapp 2000 Leute leben, die 100-jährig oder älter seien. Mehr als die Hälfte der Demenz-Erkrankten hätten keine Diagnose. Frauen seien dreifach betroffen – als Patientinnen, Angehörige oder Pflegende.
«Demenz ist nicht einfach vergessen», betonte Stefanie Becker. Die nicht-kognitiven Verhaltenssymptome seien dabei die grösste Belastung für Familienangehörige.

Belastung für Familienangehörige
Die Demenz gehe oft mit einem sozialen Rückzug einher. Für Demente bedeute dies Gedächtnisverlust, Stimmungsschwankungen, Gegenstände verlegen, nicht mehr zu bewältigende Alltagsaufgaben, zeitliche und räumliche Desorientierung, Probleme der Situationseinschätzung, erschwerte Kommunikation sowie Seh- und Hörstörungen. Demente würden vielleicht den Einkaufsladen noch finden, jedoch den Weg zurück oft nicht mehr. Es komme auch vor, dass sie dreimal Butter einkaufen, aber das Brot vergessen würden.

Die Risikofaktoren für Demenz
In der Schweiz käme alle 20 Minuten ein neuer Fall von Demenz dazu, weltweit alle drei Sekunden. Die Geschäftsführerin von Alzheimer Schweiz zählte die Risikofaktoren für Demenz auf. In dieser Reihenfolge sind es Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, erkrankte Herzkranzgefässe, Alkoholsucht, Diabetes, hoher Cholesterinspiegel, Übergewicht und Rauchen. Stefanie Becker: «Es gibt keinen Schutz vor Demenz, aber jeder kann etwas tun, um sein Risiko zu senken. Alles, was gut ist für das Herz, ist auch gut für das Gehirn.» Ihre fünf Tipps: «Sorge tragen zum Herzen, regelmässige Bewegung, gesunde Ernährung, Training fürs Gehirn, soziale Aktivitäten.» Die Referentin appellierte an die Gemeinden, Anlaufstellen zu bieten und zusammen mit dem Kanton besser zu koordinieren.

Was ist bei Demenz das Tödliche?
Eine Altersforum-Teilnehmerin fragte die Fachfrau, was denn bei der Demenz eigentlich das Tödliche sei. Die Antwort der Expertin war, dass sich viele Zellverbindungen auflösen würden, die Bettlägerigkeit, ein ungenügend funktionierendes Immunsystem und Lungenentzündungen. Ursula Grob (Hausärztin in Herzogenbuchsee) ergänzte diese Aufzählung von Stefanie Becker aufgrund eigener Erfahrungen. Meist sei es ein Infekt, der letztlich zum Tode führe, oft ein Unfall. Zudem würden sich an Demenz Leidende verschlucken, weil der Schluckreflex nicht mehr richtig funktioniere. Blasenentzündungen gehörten bei Dementen letztlich ebenfalls zu den Todesursachen.

Nachbarschaftshilfe – Zeitvorsorge
Die Nachbarschaftshilfe sei ein wichtiger Teil der sozialen Integration und der Solidarität, unterstrich Ruedi Winkler, Präsident des Verein KISS (keep it small and simple) Schweiz, der das auf Zeitvorsorge basierende Prinzip nach der Devise «geben und nehmen» vorstellte. Auf einfache und unbürokratische Art würden Freiwillige – oft rüstige Senioren und Seniorinnen oder Nachbarn – auf Hilfe angewiesene Menschen beim Einkaufen oder anderswie mit Rat und Tat unterstützen. Diese Handreichungen würden dann nicht finanziell abgeholten, sondern mit einer Zeitgutschrift honoriert, die sie später mal, wenn sie selber auf Hilfe angewiesen sein sollten, verrechnen können. Bei diesem Engagement könnten alle mittun – von Jung bis Alt. Nun war die Reihe an Felix Bohn. Als Architekt, Ergotherapeut, Lichtdesigner und Gerontologe sprach er zum Thema «Altersgerechtes Bauen nützt allen – Wohnungsbau, Wohnungsanpassung und öffentlicher Raum». Für den Abschluss des spannenden 17. Altersforums Oberaargau sorgte Birgitta Schermbach, Pflegefachfrau Psychiatrie und Beraterin Psychotraumatologie. Sie tat dies augenzwinkernd mit ihrem Referat «Ehret die Alten, bevor sie erkalten.»