Der Frauenpower hat nicht aufgehört
Am Sonntag jährt sich der grosse Frauenstreik. Wie wurde der Tag erlebt, was ist davon geblieben, was hat sich positiv verändert und wo braucht es noch mehr Effort? Das wollte der «Unter-Emmental» von damals in Langenthal teilnehmenden Frauen wissen.
Frauenstreik · «Frauen sind aufgestanden, haben sich positioniert und wollen etwas verändern.» So blickt Dorette Balli, Mitorganisatorin des Frauenstreiks 2019 in Langenthal, auf das Jahr zurück. Das habe sich vor allem bei den Wahlen gezeigt, sagt die ehemalige SP-Stadt- und Grossrätin und belegt dies mit Zahlen auf nationaler Ebene: 2015 lag der Frauenanteil bei 32 Prozent, 2019 bei 42 Prozent. «Mit Christine Badertscher haben wir sogar eine Nationalrätin aus unserer Region», erinnert sie an die Wahl der grünen Politikerin aus Madiswil. Eine Folge des gestärkten Selbstbewusstseins der Frauen seien die verschiedenen Vereine für Frauenpolitik, welche im ganzen Kanton entstanden sind, weiss die 65-Jährige, die sich aktuell unter anderem in der Geschäftsleitung der Sektion Oberaargau/Emmental der Unia und als Vizepräsidentin der Unia-Frauen des Kantons Bern engagiert. «Aber auch die vielen jungen Männer, welche die Frauen unterstützen, sind erwähnenswert», findet sie.
Frauenstreik – Frauenstamm
In Langenthal ist aus dem Frauenstreik ein von Saima Sägesser initiierter Frauenstamm entstanden, an dem einmal im Monat politische Themen diskutiert werden. «Dort fühlen sich die politisch interessierten Frauen gut aufgehoben, da sie frei reden können», so die 26-jährige Theaterwissenschaftlerin. «Für mich persönlich habe ich durch den Frauenstreik noch mehr Kraft und Lust erhalten, mich im Stadtrat mit frauenspezifischen Themen einzubringen», zieht sie eine persönliche Bilanz. Als Co-Präsidentin der SP Langenthal nennt sie einen weiteren positiven Aspekt. «Die Suche nach Kandidatinnen für die diesjährigen Gemeindewahlen gestalten sich einfacher, da sich mehr Frauen in der Politik einbringen und etwas bewegen wollen.»
Das Leben positiv verändert
Ebenfalls viel Positives nimmt Ramona Bühler aus Roggwil vom Frauenstreik mit, den sie als sehr berührend empfunden hat. «Die vielen Menschen, die sich mit uns versammelt haben, um für ein gerechteres, freieres und selbstbestimmendes Leben zu kämpfen, haben Geschichte geschrieben», blickt sie auf den 14. Juni 2019 zurück. Sie ist überzeugt, dass dieser Tag nicht nur ihr Leben positiv verändert hat. «Ich bin dankbar, dass ich mit unserer Bodyshaming-Aktion ein Teil davon sein durfte.» Sie habe viele positive Feedbacks erhalten, nicht nur von Bekannten, sondern von Leuten auf der Strasse. Die Aktion habe sie keinen Moment bereut. «Im Gegenteil, ich war richtig stolz auf mich und meine Mitstreiterinnen und würde es immer wieder tun.»
Die Servicekraft ist denn auch überzeugt, dass der Frauenstreik Berge versetzt hat. «Aber es gibt viele Dinge, die sich unbedingt noch verändern müssen», schränkt sie ein und nennt als Beispiele Lohngleichheit, selbstbestimmtes Sein, Selbstliebe mit dem Willen, sich zu kleiden und auszusehen, wie Frau will. Persönlich sei sie immer noch auf der Suche nach sich selbst. Aus diesem Grund habe sie sich von Demos und politischen Aktionen zurückgezogen. «Aber jeder Tag ist eine neue Seite in meinem Lebensbuch und wer weiss, vielleicht bin ich wieder mal an einer Demo anzutreffen», lässt sie offen.
Generationenübergreifend
Sofia Fisch, Mitglied der Juso und Co-Initiantin des Frauenstreiks, und ihre Mutter Maya Eigenmann Fisch, beide aus Madiswil, blicken mit guten Gefühlen auf den 14. Juni und das Jahr danach zurück. «Ich war positiv überrascht, wie viele Frauen und Männer jeden Alters unseren Anlass besucht haben», so Maya Eigenmann. «Die Wochen nach dem Streik waren durchwirkt von den Anliegen, die wir thematisiert hatten», so die ehemalige SP-Grossrätin von Madiswil.
«Ich denke, gerade das Thema sexuelle Übergriffe auf Frauen ist im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft nach wie vor präsent und viele Leute sind sensibilisiert», nennt sie einen Punkt. Und: «Vermehrt wird in Texten endlich auch die weibliche Form sprachlich genauso sichtbar wie die männliche. Somit rücken Frauen stärker ins Bewusstsein – ein Anliegen, das mir seit vielen Jahre am Herzen liegt», nennt die ehemalige Sprachlehrerin einen weiteren Fortschritt.
Sofia Fisch fand es unglaublich bereichernd, dass Menschen aus allen Altersgruppen gemeinsam etwas auf die Beine gestellt hatten. Sie habe bei der Organisation von der Erfahrung ihrer Mutter profitieren können. «Und natürlich war es auch sehr schön, den Streiktag gemeinsam mit meiner Mutter verbringen zu dürfen.» Verändert habe sich ihr Verhältnis dadurch nicht. «Es war immer sehr gut», sind sich beide einig.
Es braucht mehr Chancengleichheit
Auf das Jahr danach angesprochen, findet die 24-jährige Studentin der Rechtswissenschaften, dass das Bewusstsein für feministische Themen innerhalb der Gesellschaft grösser geworden sei. «Die Vernetzung und Solidarität unter den Frauen hat in meinen Augen zugenommen.» Ihr Wunsch für die Zukunft: «Eine Welt, in der sich alle Menschen frei entfalten können. Niemand soll aufgrund seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung gesellschaftlich herabgesetzt werden. Um da hinzukommen, braucht es mehr Chancengleichheit.»
Von Irmgard Bayard