• Richard Bucher ist seit 31 Jahren der Klosterziegler von St. Urban. · Bild: Thomas Peter

  • Richard Bucher ist Klosterziegler von St. Urban mit Leib und Seele. · Bild: Thomas Peter

  • Der Abdruck mit dem Holzmodel gelingt gestochen scharf. · Bild: Thomas Peter

  • Der einstige Abteikeller ist die Werkstatt von Richard Bucher, der eine Bodenplatte im Streichrahmen mit einem Spachtel glatt streicht. · Bild: Thomas Peter

  • Ein Playboy-Bunny auf einem Ziegel, der hergestellt wurde wie vor 800 Jahren. Gut wissen das die Mönche nicht. · Bild: Thomas Peter

14.07.2020
Luzerner Hinterland

Der Klosterziegler denkt nicht ans Aufhören

Wenn das die mittelalterlichen Mönche vom Zisterzienserkloster St. Urban wüssten: Ein Playboy-Bunny auf einem Zierbackstein, hergestellt wie vor 800 Jahren von den Mönchen selbst! Der Stein des Anstosses wäre wohl heute ein Wurfgeschoss. Doch der 70-jährige, zurückhaltende Klosterziegler Richard Bucher will alles andere als provozieren. «Ich möchte das Kulturgut der Handziegelei zu neuem Leben erwecken.» Und da geht es ihm ums Handwerk und weniger um Motive. Zudem ist er der Hüter der lückenlosen Sammlung von 1000 Dachziegeln aus der 600-jährigen Geschichte einer einzigen Ziegelei. «Das ist einmalig in der Schweiz.»

Sommerserie Nachbarn / St. Urban · Eigentlich war es nicht gerade die Art des feinen Mannes. Ausgerechnet ihn, Richard Bucher, den schmächtigsten aller Soldaten, hatte man anno 1972 im Azmooser Restaurant Traube für eine Nacht ins pinke Mägdezimmer im Dachgeschoss verbannt. «Für den Richi tut es das schon», hatte es unter den Kameraden geheissen. Und da stand er, blickte sinnierend zum Fenster hinaus gegen die untergehende Sonne. Der Moment, um Trübsal zu blasen? Nicht für ihn, denn plötzlich war es um Richi geschehen. Was er sah, veränderte sein Leben. «Ich war von der Schönheit des Daches im Abendlicht fasziniert. Die Biberschwanzziegel haben mir gefallen wie verrückt.» Vorher hatte er nicht mal gewusst, dass es so etwas gibt. Unten in der Gaststube hörte er später den Wirt wettern. «Diese handgemachten Ziegel müssen weg. Die sind nicht mehr dicht.» Handgemacht? Richard Bucher wurde noch hellhöriger. Er wollte unbedingt in den Besitz einiger Exemplare gelangen. Der Wirt versprach, ihm drei zu senden.
Richard Bucher wartet zwar auch heute nach 48 Jahren noch vergebens auf dieses Paket. Aber seine Neugier war geweckt. Und die liess sich nicht so leicht stillen. Die ersten handgemachten Dachziegel waren dann dennoch schon bald in seinem Besitz. In Burgdorf, wo er aufgewachsen ist, zog er mit Fahrrad und Anhänger aus in den Gyrischachen, wo ein Stöckli abgebrochen wurde, und er transportiere eine Ladung Biberschwanzziegel aus dem späten Mittelalter nach Hause. «Da habe ich gemerkt, es gibt ganz verschieden geformte Ziegeltypen.» Vor allem jene mit den tiefen Rillen, die stark strukturierten, hatten es ihm angetan. Doch wie wurden diese Ziegel hergestellt? Der Wissenschaftler, der in ihm schlummerte, wurde wach.

Der Wein ist weg
Und heute? Richard Bucher steht im Zisterzienserkloster St. Urban im prachtvollen und prallgefüllten Abteikeller, wo einst die Mönche des Mittelalters ihren Wein lagerten. 2009 ist er in diese Räumlichkeiten zurückgekehrt, nachdem er zuvor 17 seiner besten Jahre als Klosterziegler im für ihn stimmigeren Rossstall verbringen durfte, ehe der Stall anderweitig genutzt wurde. Seit nunmehr 31 Jahren gewährt ihm das Kloster St. Urban kostenloses Gastrecht. Und atmosphärisch stimmig ist es auch am inzwischen nicht mehr ganz so neuen Wirkungsort. Dafür sorgen nicht nur das Gewölbe des Kellers, sondern vor allem Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Ziegeln, Backsteinen, Bodenplatten: Baukeramik aus dem Mittelalter bis in die Neuzeit. Stehend, liegend, hängend, in Kisten und auf Paletten gelagert.
Und zu jedem Stück weiss Richard Bucher eine Geschichte zu erzählen und schiebt gleich drei, vier weitere Stories oder Anekdoten nach. Der 70-Jährige ist in seinem Element, strahlt und schweift immer wieder ab. Er weiss es und lacht verschmitzt, wenn er sich dabei selbst ertappt: Der Schulbube von einst tritt aus dem pensionierten Werk- und Zeichnungslehrer mit heilpädagogischer Zusatzausbildung wieder hervor. Das ist sein Leben seit bald 48 Jahren.

Der Backsteinleser
Richard Bucher, der Ziegelflüsterer? Den ihm einst ungefragt verliehenen Titel will er nicht für sich beanspruchen. Dafür «Backsteinleser». «Ich versuche, die Ziegel zu lesen, ihren damaligen Herstellungsprozess zu begreifen und sie heute unter den gleichen Bedingungen wie damals ohne moderne Hilfsmittel zu reproduzieren. Ich bin ein handwerklicher Wissenschaftler.» Seine Forschungsarbeit nennt er dementsprechend experimentelle Archäologie. «Ich habe keine schriftlichen Quellen. Aber ich habe die Originale, die ich studiere, um den handwerklichen Prozess nachvollziehen zu können.» Seine Erkenntnisse versuche er dann in der Praxis umzusetzen, was nicht immer auf Anhieb gelingt. Experimentell eben. Dabei geht es ihm weniger um den historischen Aspekt, etwa der Motive, als viel mehr um das Handwerk selbst. Natürlich ist er von den Mustern und Sujets der mittelalterlichen Zierbacksteine sehr angetan, doch bei seinen reproduzierten Stücken darf auch einmal ein Playboy-Bunny oder je nach Wunsch eine Comicfigur oder ein Spongebob darauf sein, auch wenn er den eigentlich nur vom Hörensagen her kenne. «Ich bin offen für Neues», sagt er, der noch ganz ohne Smartphone, PC, E-Mail und Internet lebt. Immerhin: Sein analoges Handy nutzt er auch für SMS.

Der gute Ton der Mönche
«Vor 36 Jahren habe ich mich selbständig gemacht als historischer Baukeramiker», erklärt Richard Bucher. Kann man denn davon leben? «Vieles ist ehrenamtlich», deutet Richard Bucher an, dass er eigene Mittel reingesteckt hat, querfinanziert durch seine Leh-rertätigkeit. Wieso macht man denn heute noch in Sachen Ziegel, die kaum ein Mensch mehr braucht? «Der direkte Bezug und Kontakt mit dem formbaren Material der Erde. Die Hände sind das Werkzeug. Aus Lehm kann man ohne industrielle Produkte ein Haus bauen, den Boden, die Wände, das Dach decken.» Dies fasziniere ihn. Zudem: «Ich möchte ein einstiges Kulturgut zu neuem Leben erwecken, das im 13. und 14. Jahrhundert eine grosse Bedeutung hatte.» Damals hatten die Mönche in St. Urban wohl vor allem zum Eigenbedarf Dachziegel, Bodenplatten und Zierbacksteine hergestellt.
Der Ton stammte schon damals aus der Lehmgrube in St. Urban, eine der grössten und vielschichtigsten der Schweiz mit bis 120 Meter hohen Abbauwänden. Auch der von Richard Bucher verwendete Ton kommt von dort. Die Zierbacksteine der Mönche wurden zu einem «Exportschlager» für Klöster, Kirchen und Burgen in der halben Deutschschweiz. Die Biberschwanzziegel fanden den Weg auf viele Dächer von Stöcklis in der Region. Die Produktion wurde ein wichtiger Wirtschaftszweig fürs Kloster.

Grösste Sammlung der Schweiz
Um 1400 war aber bei den Mönchen von einem Tag auf den anderen Schluss. Die Gründe kenne er nicht, erklärt Bucher. Die Klosterziegelei wurde daraufhin privatisiert. Bis etwa 1860 wurden in der Ziegelei St. Urban handgemachte Tonplatten hergestellt, bevor die maschinelle Produktion begann. Richard Bucher lagert eine lückenlose Sammlung an Dachziegeln von 1250 bis 1860 aus der Ziegelei St. Urban in seiner Werkstatt. Gut 1000 Stück. «Das ist einmalig für die Schweiz.» Diese Sammlung würde er eigentlich gerne in Buchform der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dazu ist er noch nicht gekommen, doch gewährt er Einblicke in seinen Fundus und deren Geschichte bei seinen Führungen und Workshops, bei denen die Teilnehmer eigene Dachziegel oder Zierbackstein herstellen können. Auf Anfragen macht er auch Ziegel zu besonderen Anlässen wie Jubiläen, Geburtstage oder Hochzeiten. Und da fliessen manchmal auch die ungewöhnlichen «Sujetwünsche» wie das Playboy-Bunny ein. In den besten Jahren hatte er bis zu 27 Schulklassen und gegen 500 Touristen in seiner Werkstatt. Aber auch Gruppen von Lehrkräften oder Architekten gehören zu seiner Kundschaft. Doch der kommerzielle Aspekt stand und steht im Hintergrund. Manchmal schaute nicht einmal ein Stundenlohn von zwei Franken raus. An einem der Holzmodel, die er als Druckform für die Zierbacksteine benötigt, kann er gut und gerne bis zu 200 Stunden schnitzen, feilen und verfeinern. «Diese Model sind mein wertvollster Schatz.»

Der erste und letzte Klosterziegler
In letzter Zeit ist es auch etwas ruhiger geworden, ist Richard Bucher nicht mehr so oft in St. Urban anzutreffen wie zu Beginn, als er gesamthaft bis zu drei Monaten pro Jahr vor Ort war. Was aber geschieht aus der Werkstatt und der Sammlung, wenn er sich dereinst komplett zurückzieht? Diese Frage hat er befürchtet. Er hat sie nicht gerne, und er möchte sie am liebsten nicht beantworten. Es graut ihm gar davor, darüber nachzudenken. Und doch ringt er sich zu einer Antwort durch: «Ich will, dass der Betrieb weitergeht. Die Zukunft ist mir nicht gleichgültig. Aber es ist ein Problem, jemanden zu finden, der das so ehrenamtlich mit dem wissenschaftlichen Aspekt weiterführt wie ich.» Mit Herzblut? Der Begriff ist ihm zu inflationär. Mit Leib und Seele? «Das trifft es. Ich bin nicht einfach ‹nur› der letzte Klosterziegler. Ich bin vor allem der erste … und vielleicht dann doch auch der letzte.» Er hofft es nicht. Und gegenwärtig denkt er auch nicht ans Aufhören, hat er immer noch alle Hände voll zu tun, wenn auch weniger in der Werkstatt als vielmehr als Berater und Restaurator, wird er doch als denkmalpflegerischer Dachsanierer beigezogen. «In Fachkreisen bin ich ein anerkannter Experte», sagt er ohne einen Hauch von Überheblichkeit.

Von Thomas Peter