Der Krampf im Kampf um die Leichtigkeit
Oberaargauer Sportbuch: Die Flückiger Brothers – Sie sind die erfolgreichsten Sport-Brüder, die der Oberaargau zu bieten hat. Lukas (1984) und Mathias (1988) Flückiger fahren nun schon seit mehreren Jahren in der Welt-Elite des Radrennsportes ganz vorne mit. Ihre Geschichte wird dominiert von Höhen und Tiefen, Zwist und Versöhnung, Verkrampfung und Leichtigkeit. Was noch fehlt ist das Happy End.
Radsport · «Bi üs hets es paar Mau klepft», sagt Mathias Flückiger. Auf dem heimischen Hof in Ochlenberg, wo die Flückiger Brothers mit Schwester Lea aufgewachsen sind, flogen hin und wieder die Fäuste. Aber auch später, als die beiden in der Weltelite des Radsports um Podestplätze im Biken kämpften, bestand ihr Verhältnis nicht nur aus brüderlicher Liebe. «Mord und Totschlag gab’s nie», sagt der Jüngere der beiden scherzend und fügt lachend an: «Manchmal war’s aber nahe dran.» Sich falsch verstehen, sich anschweigen und dann im Moment grosser Not dennoch wieder zusammenhalten: Auch wenn viel Zeit vergehen musste, bis sich das Verhältnis der beiden dauerhaft entspannte, können sie heute über ihre früheren Hahnenkämpfe lachen. Diese mittlerweile gefundene Leichtigkeit hat aber nicht nur ihre brüderliche Beziehung verändert. Sie soll in Zukunft auch zu jenen Erfolgen führen, die dem erfolgreichsten Oberaargauer Brüder-Duo zumeist wegen Jahrhunderttalent Nino Schurter noch verwehrt blieben.
Verbissenheit als Segen und Fluch
Begonnen hat die Liebe zum Radrennsport in der Familie. Velofahren war schon immer ein Thema bei den Flückigers und noch heute erfreuen sich die beiden an den Grundzügen der schweizweit beliebten Freizeitbeschäftigung. Den Berg hinunterfahren, von A nach B gelangen, das Adrenalin spüren, das Tüfteln an der Ausrüstung oder einfach nur schneller sein als andere, definiert ihre Liebe zum Sport. Während Lukas Flückiger schon in jungen Jahren wie gefesselt vom Biken war, konnte sich Mathias Flückiger lange nicht dafür begeistern. «Ich hinkte körperlich hinterher und konnte nicht mithalten», erinnert er sich. Unihockey oder Eishockey standen damals eher hoch im Kurs – bis sein Bruder auf zwei Rädern begann, Erfolge auf internationaler Ebene zu feiern. «Seine Erfolge haben mich motiviert. Ohne ihn würde ich heute nicht fahren», sagt Mathias Flückiger.
Das führte aber auch dazu, dass er langsam begann, an der Familienhierarchie zu rütteln. Lange war der viereinhalb Jahre ältere Lukas schneller, auch, als die beiden im gleichen Team fuhren. «Aber irgendwann bemerkte ich, dass er gleich schnell oder manchmal gar schneller war. Und ich wusste nichts anderes, als mich an dieser Hierarchie festzuhalten», erinnert sich Lukas Flückiger.
Der Ältere tat, was ihm so oft nachgesagt wird: Verbissen ging er ans Werk, versuchte seine Vormachtstellung zu zementieren. Sein Fleiss hat ihm dann genauso Erfolge wie Misserfolge eingetragen. Lukas Flückiger klassierte sich an Europa- und Weltmeisterschaften zwar auf dem Podest, aber nie ganz oben. «Das einen Schandfleck in meiner Karriere zu nennen, wäre übertrieben. Aber es schmerzt.» Vielleicht hat auch der fehlende Grosserfolg die brüderliche Beziehung ein weiteres Mal belastet, weshalb die beiden bald in getrennten Teams fuhren. «An Weihnachten war es aber immer harmonisch», scherzt Lukas Flückiger, der die Beziehung zu seinem jüngeren Bruder als ganz normal, «aber hin und wieder mit Reibereien» einstuft. Für den grossen Sprung fehlte Bruder Mathias vorerst die nötige Leichtigkeit, der unbändige Wille wurde oft zum destruktiven Krampf im Kopf. Zu oft stritten sich die beiden «nur» um jene Plätze hinter dem Siegerthron. So passiert bei der WM 2012 im österreichischen Saalfelden, als Lukas Zweiter und Mathias Dritter wurde.
Lockerheit als neue Waffe
Was dann passierte, ist schwer zu erklären, doch rückblickend berichten beide von einer Gelassenheit, welche die letzten Jahre prägten. Wortgefechte wurden weniger, auch, weil beide sich nicht mehr zu ernst nehmen. «Wir kennen uns zu gut und haben uns nur schon deshalb oft missverstanden», sagt Mathias Flückiger. Worte lassen sie nun nicht mehr zu nahe an sich heran und auch, weil Lukas Flückiger die neuen Stärkeverhältnisse anerkannte, fanden die beiden erneut näher zusammen. «Als wir früher zusammen trainierten, wäre ich ihm lieber in den Reifen gefahren, als ihn ziehen zu lassen. Heute kann ich mit einem Abstand von 10 Metern leben», lacht er.
Als ausserdem für die Saison 2018 finanzielle Mittel fehlten, um als Profi weiter zu machen, und eine unpragmatische Lösung nötig war, bildeten sie kurzerhand erneut ein Team. Dieses stand quasi am Anfang von Mathias Flückigers Höhenflug, der in den letzten Jahren so gut fuhr wie nie zuvor. Unter anderem konnte er im Jahr 2018 seinen ersten Weltcupsieg im kanadischen Saint-Anne verbuchen, im Jahr darauf wurde auch er Vize-Weltmeister. Entscheidend sei auch hier eine neu gefundene Lockerheit. «Die Fahrfähigkeit war nie das Problem. Die Erfahrung und die mentalen Qualitäten machten es aus», weiss er. Zwar erlitt derweil sein Bruder eine leistungstechnische Baisse, aber auch er will seinen Traum von einer Teilnahme bei Olympia oder einem ganz grossen Sieg vorerst noch nicht aufgeben. Beide haben weiterhin den Willen und leisten das nötige Engagement, um Grosses zu erreichen. Die angemessene Lockerheit hat zudem der ungesunden Verbissenheit Platz gemacht.
Was fehlt, ist die Krönung
Dabei scheint eines klar: Ohne eine Goldmedaille bei einer Elite-Weltmeisterschaft oder den Olympischen Spielen dürfen die Karrieren der Flückigers Brothers eigentlich nicht enden. Ihre Geschichte hätte es verdient, gekrönt zu werden. Dieser Druck gehöre dazu, habe seine Vorteile, dürfe einen aber auch nicht erdrücken, findet Mathias Flückiger, der nach den Leistungen der letzten Jahre stärker in der Verantwortung steht, das Oberaargauer Sportduo zu vergolden. Wenn es deshalb das nächste Mal zwischen den beiden «chlepft», dann sind es hoffentlich die Korken, die dem Champagner entspringen, die ihren ersten, ganz, ganz grossen Erfolg untermauern. Und egal, wer diesen einfährt, es wäre wohl die folgerichtige, hochverdiente Goldmedaille für das sportlich beste Brüderpaar der Region.
Von Leroy Ryser