Der Traum vom Rücktritt mit Olympia-Gold
WASEN · Der Wäseler Bobpilot Clemens Bracher hat in der vergangenen Olympia-Saison diverse Erfolge feiern können. Seither ist er Weltcup-Sieger, hat EM-Silber gewonnen und an den olympischen Spielen teilnehmen können. Aktuell hängt seine Karriere dennoch am seidenen Faden: Es fehlen weiterhin über 50 000 Franken, damit er seine Zukunft wie gewünscht planen kann. «Einfach nur ein bisschen mitfahren will ich nicht. Ich brauche ein Ziel und das ist eine olympische Medaille», sagt der 31-Jährige. Und wer eine solche Absicht hat, braucht auch entsprechende Mittel.
Leroy Ryser im Gespräch mit
Clemens Bracher, Bob-Pilot und Olympionike
Clemens Bracher, wieso donnern Sie zu zweit oder zu viert mit 150 km/h Geschwindigkeit durch einen Eiskanal? Das ist doch lebensgefährlich?
Es hat einfach einen gewissen Reiz. Die Geschwindigkeit. Die Fliehkräfte. Man muss schnell reagieren und bereit sein. Hauptsächlich geht es um das Gefühl. Ausserdem gewöhnt sich der Kopf irgendwann an die Geschwindigkeit, bald einmal kommt es einem gar nicht mehr so schnell vor.
Das klingt, als wären Sie ein Adrenalin-Junkie?
Nein, ein Adrenalin-Junkie bin ich nicht. Ich würde mir nie einen Bungee-Jump oder einen Sprung aus dem Flugzeug antun. Da bin ich dann schon eher ein «Schisshaas». Ich brauche Boden unter den Füssen. Ausserdem will ich alles selbst beeinflussen können.
Bei Ihnen kommt auch noch eine Erkrankung dazu. Sie hatten ein Loch im Herzen, dadurch resultierte ein Hirnschlag. Sie sind dem Tod entglitten und treiben dennoch Leistungssport. Hatten Sie nie Angst um Ihr Leben, während dem Sie Sport trieben?
Angst sicherlich nicht. Auch seither nicht. Das gehört jetzt dazu. Ich bin auch überzeugt, dass ich diese Situation ohne den Sport gar nie so glimpflich hätte überstehen können. Es kam, wie es kommen musste.
Beschäftigt Sie dieses Erlebnis noch?
Ich denke nicht mehr darüber nach. Auch wenn ich morgens meine beiden Tabletten nehme, gehen meine Gedanken nicht zum Hirnschlag. Es ist mittlerweile normal geworden. Ich tue es und das ist gut.
Fühlen Sie sich damit beeinträchtigt?
Bei harter Anstrengung bin ich im Kopf schneller müde. Ich fühle mich deshalb nicht beeinträchtigt, aber wenn ich beispielsweise eine Schramme habe – was in unserem Sport nicht unüblich ist – hört es wegen dem Blutverdünner kaum auf zu bluten. Das ist vielleicht der einzige Nachteil.
Damit müssen Sie nun lebenslänglich umgehen?
Ja, denn es ist heikel. Man will ein weiteres Blutgerinnsel verhindern und das könnte ohne den Blutverdünner bereits bei einer Überdehnung eines Bandes oder einer sonstigen Verletzung auftreten. So minimiert man die Gefahr, dass es erneut auftritt.
Dass Sie dadurch nicht stark beeinträchtigt werden, sieht man nicht zuletzt auch an den Resultaten. Sie können mit Stolz auf Ihre bisherige Karriere zurückblicken.
Da spielten aber auch extrem viele Faktoren mit. Angefangen bei den Sponsoren, die an uns geglaubt haben, obwohl wir noch keine Referenzresultate hatten. Hinzu kommen die Familie sowie die Leute, die mir nahe stehen, und mein Umfeld hinzu, die mich enorm unterstützt haben, genauso wie ein tolles Team. Da hat sehr vieles gepasst. Und nicht zuletzt kommt auch sehr viel Verzicht hinzu, dass es wirklich auch geklappt hat. Bisher haben wir mehr erreicht, als wir uns jemals erhofft hatten. Wir sind diesen Weg vier Jahre lang gegangen und wurden dafür oftmals belächelt. Aber wir haben uns nicht zu Boden reissen lassen und da ist es natürlich schön, wenn etwas zurückkommt. Zuerst habe ich das nicht bewusst wahrgenommen, jetzt, mit etwas Abstand sehe ich aber, was wir erreicht haben.
Gerade in der letzten Saison ist viel passiert. Weltcup-Sieg, EM-Silber, Olympia-Teilnahme – wie gewichten Sie die unterschiedlichen Erfolge Ihrer Karriere?
Ich glaube, ein Schlüsselerfolg war der 12. Platz im Debüt-Rennen im Weltcup im Viererbob eine Saison zuvor. Wir sind als totale No-Names gestartet und haben diese starke Klassierung erreicht. Uns wurde klar, dass – wenn wir uns noch mehr anstrengen – noch mehr möglich ist. Der zweite Schlüsselerfolg war dann das Weltcup-Debüt im Zweierbob, als wir gleich gewinnen konnten. Wichtig war für mich auch die Zusammenarbeit mit Christoph Langen (Anm. d. Red.: ehemaliger Deutscher Spitzen-Bobfahrer). Ohne ihn wäre das Ganze wohl unmöglich gewesen.
Welches war der schönste Erfolg, den Sie gefeiert haben?
Ich denke, das ist die EM-Silbermedaille. Wir hatten eine Woche zuvor den Weltcup gewonnen und konnten danach an der EM diese Leistung bestätigen. Bei den Olympischen Spielen sehe ich die Teilnahme auch als Erfolg an, rein resultattechnisch ist aber eher die EM-Silbermedaille der schönste Erfolg.
Sie haben damals als No-Name in der Szene gross aufgetrumpft. Wie war das für Sie?
Ich denke, es war einfacher mit dieser Ausgangslage. Wir haben gewusst, dass wir vieles erreichen können, wenn alles passt. Natürlich war es schon ein Ziel, vorne mitzufahren. Wir waren im Europacup immerhin nach zwei Siegen führend und vielleicht auch ein bisschen erfolgsverwöhnt. Wir wollten diese Erfolge auch auf der nächsthöheren Stufe erreichen.
Bei den Olympischen Spielen in diesem Jahr ist das nicht restlos gelungen. Sie haben einen Top-Ten-Platz angestrebt, diesen aber verpasst. Damit sind Sie wohl nicht restlos zufrieden?
Nein, restlos nicht. Hier müssen wir aber eine Mischrechnung machen. Im Zweier-Bob sind wir mit dem 16. Platz nicht zufrieden. Im Vierer dagegen bin ich noch heute glücklich über unseren 14. Rang. Die Bedingungen waren für uns schwieriger. Andere hatten schon mehrere Fahrten auf dieser Bahn absolviert, wir aber hatten nur gerade zehn Trainings, um uns an die Begebenheiten zu gewöhnen. Das war nicht unbedingt förderlich. Deshalb ist der 14. Rang auf dem Papier ideal. Zudem hatten wir auch nicht das schnellste Material und von daher war das durchaus vertretbar, zumal wir mehrere starke Teams hinter uns gelassen haben.
Würden Sie im Nachhinein etwas ändern wollen?
Natürlich hätte man viel ändern können. Aber die Frage ist viel eher, ob das zu diesem Zeitpunkt auch möglich gewesen wäre. Ich denke, wir haben das Optimum herausgeholt. Gerade finanziell wäre gar nicht viel mehr möglich gewesen.
Noch ist nicht aller Tage Abend. Mit 31 Jahren können Sie in vier Jahren einen zweiten Anlauf nehmen.
Das könnte ich.
Das klingt nicht gerade zuversichtlich. Fehlt weiterhin Geld?
Aktuell fehlen über 50 000 Franken. Wenn ich ganz ehrlich sein muss, riecht es derzeit eher nach einem Rücktritt als nach einer zweiten Olympia-Teilnahme.
Das klingt drastisch.
Wir haben eine klare Zielsetzung. Damit wir den Weg dorthin gehen können, muss der Rahmen stimmen. Wenn dieser ab dem ersten Tag nicht gewährleistet ist, muss ich wohl oder übel meinen Rücktritt geben. Nur ein bisschen mitfahren will ich nicht. Das wäre einerseits meinen Sponsoren gegenüber nicht gerechtfertigt und andererseits würde mir dazu auch die Motivation fehlen. Ich will und kann nicht auf so viel verzichten, wenn ich nachher keine passenden Ziele anstreben kann. Dann muss ich mir eine neue Herausforderung suchen.
Wir sprechen von einem Budget von 264 000 Franken. Wieso ist es so schwierig, das Geld zu sammeln?
Es geht um die Menge. Mit diesem Budget, aufgeteilt auf die einzelnen Teilgebiete, kommen wir durch eine Saison durch und können auf entsprechendem Niveau fahren. Die Werbe-slots für meine Sponsoren sind aber begrenzt, der Verband ermöglicht mir nur eine gewisse Anzahl Sponsoring-Plätze. Also muss ich sehen, wie viel Geld ich brauche und verteile dies auf die einzelnen Plätze. Dadurch sind die einzelnen Werbeflächen teilweise ziemlich grosse Brocken. Wir sprechen von 5000 bis 50 000 Franken an Geldern pro Sponsor – und das über vier Jahre. Gerade heute sitzt das Geld bei Firmen und Privatpersonen aber nicht locker. Sponsoring hat in der Schweiz mit viel Goodwill zu tun, daher ist es auch schwierig.
Gäbe es nicht noch andere Möglichkeiten? Töffpilot Dominique Aegerter hat beispielsweise ein Crowdfunding gestartet.
Einerseits ist der fehlende Betrag immer noch sehr gross, meine Fan-Community kann man aber nicht mit jener von Dominique Aegerter vergleichen. Andererseits würde ich damit nur eine weitere Saison sichern und wäre dann ein Jahr später wieder genau gleich weit. Wenn ich dann nach einem Jahr dennoch meine Karriere beenden muss, dann ist das ein verlorenes Jahr. Und zuletzt kann ich mir solche Projekte eher als Notnagel vorstellen. Wenn ich beispielsweise in der Olympia-Saison sehe, dass ich etwas ausserhalb des Budgets anschaffen will, könnte so etwas eher helfen. Und das will ich mir nicht schon jetzt vergeben.
Ein gewisser Frust ist zu verspüren. Bietet der Verband zu wenig Unterstützung?
Es ist kein Frust gegenüber dem Verband. Der Verband hat mich so gut es ging unterstützt. Aber ja, es ist schon etwas frustrierend. Ich werde fünf Mal pro Tag darauf angesprochen und diskutiere darüber. Viele sehen nur den sportlichen Teil, nicht aber den finanziellen, und dann ist es nicht einfach, die Lage immer wieder zu erklären. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mich die aktuelle Situation enttäuscht.
Und auf die fehlenden 50 000 Franken zu verzichten ist keine Option?
Nein. Das mag stur klingen, aber es geht nicht anders. Es würde ein Rattenschwanz entstehen. Ich müsste die Lücke als Privatperson decken, würde dann wohl wieder mehr arbeiten gehen und prompt würde mir wieder die Erholung fehlen. Ständig unter Strom zu sein, ist nicht gut. Da habe ich aus dem letzten Sommer gelernt.
Sie haben auf Ihrer Website als Ziel geschrieben «das Vereinbaren von Job, Spitzensport und Gesundheit». Das gelingt folglich nicht immer?
Das Ganze spielt dort auch ein bisschen rein. Im letzten Sommer war ich gesundheitlich wirklich angeschlagen. Deshalb bin ich bestrebt, diese Mischung aufrecht zu erhalten. Daraus habe ich gelernt. Deshalb will ich dieses Budget erreichen, damit wir sorgenfrei durch die Saisons gehen können.
Was könnten Sie anstelle des Bobsports unternehmen?
Ja, es gäbe sicherlich die eine oder andere Idee. Schöne Dinge oder Herausforderungen, die das Leben zu bieten hat. Ich hätte dann beispielsweise mehr Zeit für private Dinge, die zuletzt immer auf der Strecke geblieben sind.
Gehen wir zuletzt noch einmal in eine positivere Richtung und hoffen, dass Sie Ihre Karriere fortsetzen können. Sie sprechen ständig von den vier Jahren. Was genau wäre Ihr Ziel in dieser Zeit?
Eine olympische Medaille. Ohne dieses Ziel würde ich nicht mehr vier weitere Jahre investieren. Einfach nur teilnehmen ist keine Option, das habe ich in diesem Jahr bereits erlebt. Und komplett anders wäre ein solcher Event in Peking wohl auch nicht. Gerade deshalb muss der Rahmen stimmen. Ich verzichte nicht auf so viel, um nur ein bisschen Spass zu haben.
Die Schweizer Illustrierte hat Ihnen einst eine schöne Frage gestellt. In der aktuellen Situation möchte ich diese als Abschluss des Interviews wiederholen: Welche Schlagzeile möchten Sie zum Ende Ihrer Karriere über sich lesen?
(überlegt lange) Angenommen, ich fahre weiter, dann gibt es so etwas wie eine Traum-Schlagzeile, die ich gerne lesen möchte. «Rücktritt nach Olympia-Gold». Und wenn ich nicht weiterfahre, dann gibt es wohl sowieso keine Schlagzeilen mehr. Oder vielleicht in einem anderen Bereich.