Die grosse Freiheit am Felsen
Michelle Hulliger, Sportkletterin aus Ramsei – Die 21-jährige Michelle Hulliger vom Ramseiberg hat im schwierigen Wettkampfjahr 2020 vor allem am Felsenklettern Gefallen gefunden. Ausserdem wurde sie Vize-Schweizermeisterin in ihrer Paradedisziplin, dem Leadklettern.
Sportklettern · «Ich hatte in diesem speziellen Jahr vor allem die Möglichkeit, mich mit dem Felsklettern zu beschäftigen», sagt Michelle Hulliger. «Klettern ist für mich primär Freiheit und Freude. Dies in der Natur zu erleben, ist wunderschön», sagt die erfolgreichste regionale Sportkletterin der letzten Jahre. «Und auch das Felsklettern ist wie eine Challenge. Ich bin motiviert, den Schwierigkeitsgrad ständig zu steigern», erklärt die 21-Jährige. 2019 gelang der Sportlerin vom Ramseiberg ein Meilenstein.
Neue Bestmarke bei 8c+
Mit dem Durchstieg in der Route «Tornado Power» in Gimmelwald im Berner Oberland schaffte Hulliger erstmals den Schwierigkeitsgrad 8c. «Ein herrliches Gefühl.» Doch der Ehrgeiz der Juniorinnen-Europameisterin von 2017 im Lead-Sportklettern ist gross. Und so konnte sie im Coronajahr tatsächlich eine weitere Steigerung erzielen. Michelle Hulliger konnte in Rawyl im Wallis die Route «Cabane au Canada» (Schwierigkeitsgrad 8c+) erfolgreich durchsteigen. «Es war ein unglaubliches Gefühl, es geschafft zu haben.» Nun kann sie die nächsten Stufen 9a, 9a+ und 9b ins Auge fassen. Nur ganz wenige Frauen haben diese schwierigen Routen bereits geschafft. «Höher als die Schwierigkeitsstufe 9b hat an einem Fels noch keine Frau geschafft», erklärt Michelle Hulliger. Die engagierte Kletterin, welche beim Nachwuchs unzählige Medaillen gewann, ist nicht mehr weit davon entfernt. Die gelernte Bankfachfrau wird im kommenden Frühling im Berner Oberland erstmals eine 9a-Route in Angriff nehmen.
Eine SM-Silbermedaille
Wettkampftechnisch umfasste die Covid-19-Saison von Hulliger nur gerade vier Wettkämpfe. In der Disziplin Bouldern startete das momentan bei Media Markt an der Kasse jobende Nationalmannschaftsmitglied im März an der Schweizermeisterschaft in Bulle den 9. Rang. «Eine grosse Enttäuschung, weil ich nicht zeigen konnte, was ich drauf hatte.»
Ganz anders lief es dafür an der SM im Leadklettern im September. In Villeneuve lief es Michelle Hulliger wie geschmiert. Hinter Anne-Sophie Koller aus Biel holte sich Hulliger den Vize-Schweizermeistertitel. In ihrer Paradedisziplin, dem Schwierigkeitsklettern, liess sie mit Petra Klingler (4. Rang) das Schweizer Aushängeschild im Sportklettern hinter sich. Dank diesem Glanzresultat durfte sie an der internationalen deutschen Meisterschaft teilnehmen, wo sie in einem starken Teilnehmerinnenfeld die Bronzemedaille gewann. «Ich konnte an beiden Wettkämpfen voll umsetzen, was möglich ist. Dies freute mich besonders.» Nicht an den Start ging Hulliger an der eigentlich als Saisonhighlight geplanten Europameisterschaft in Russland. «Gleich vier Topnationen verzichteten wegen Covid-19 auf eine Teilnahme. Dadurch verlor der Stellenwert der EM massiv. Darum entschloss ich mich, diese weite Reise nicht zu machen.»
Eigenes Kletterparadies
Die Pandemie machte sich überall bemerkbar. Trainingstechnisch konnte sie Michelle Hulliger nicht viel anhaben. Ihr Vater hat ihr in einem nicht mehr benutzten Spycher direkt neben ihrem Zuhause ein eigenes Kletterparadies eingerichtet. «Dort war ein Training jederzeit möglich. Ich bin sehr dankbar, über dieses Privileg zu verfügen.» In unzähligen Stunden hat sich Michelle Hulliger ihre Form bewahrt. Auch in jener Phase, in welcher Wettkämpfe sehr selten waren. «Ich bin schon glücklich, wenn wieder vermehrt Wettkämpfe stattfinden können.» Sie glaubt daran, dass dies ab 2021 wieder der Fall sein wird. «Die Vorkehrungen und die Schutzkonzepte sollten es erlauben.» Unter ihrem neuen Trainer Thomas von Arx hält sie sich an verschiedensten Schweizer Kletterwänden fit, um bereit zu sein, wenn es wieder losgehen kann. Im Fokus der Klettersaison 2021 steht die WM in Moskau im September, wofür sich die Sportkletterer qualifizieren müssen. «Mein Ziel ist es, an der WM in der Disziplin Lead an den Start gehen zu können und meine Leistung abzurufen.»
Arbeit in einer Käserei
Wenn die bloss 1,57 Meter grosse Frau nicht gerade mit dem Klettern beschäftigt ist, kniet sie sich für die Schule rein. Sie absolviert im Feusi Bildungszentrum in Bern derzeit die zweijährige Berufsmaturität. Parallel dazu wird sie ab Januar 30 Prozent in der Käserei Eyweid AG in Zäziwil in der Produktion arbeiten. «Dieser Ausgleich tut mir sehr gut.»
Von Stefan Leuenberger