• Lea Junger hat vor 44 Jahren in Rohrbach ihre erste Stelle als Kindergärtnerin angetreten und ist dem Dorf bis zuletzt treu geblieben, auch wenn einst Unterschriften gegen sie gesammelt wurden, weil sie ledig schwanger wurde. · Bild: Michael Lüthi

22.06.2023
Oberaargau

«Die Kinder werden mir bestimmt fehlen»

Ganze 44 Jahre lang hat Lea Junger in Rohrbach als Kindergärtnerin gearbeitet. Rund 900 Kinder hat sie in dieser Zeit betreut. Am 7. Juli geht die 65-jährige Pädagogin in den Ruhestand. Ein Rückblick auf über vier Jahrzehnte im Dienste der Kinder.

Rohrbach · Wir schreiben das Jahr 1979. Willi Ritschard und Kurt Furgler sitzen im Bundesrat. Die Band ABBA dominiert die Hitparaden nach Belieben. Margreth Thatcher kommt in Grossbritannien an die Macht. Und am 1. April jenes Jahres tritt die 21-jährige Lea Junger ihre erste Stelle als Kindergärtnerin in Rohrbach an. Es sollte ihre erste und zugleich letzte sein.

Gekommen und 44 Jahre geblieben
Die junge Frau aus Lützelflüh zügelte nach Rohrbach – das war damals Bedingung für die Vergabe einer Lehrerstelle. Und sie ist bis heute geblieben – 44 Jahre lang. «Das wird es nie mehr geben», sagt Lea Junger. In Rohrbach ist sie die letzte der «alten Garde», die in wenigen Wochen ihren Hut nehmen wird. Sie hätte auch Zeiten gehabt, in welchen sie den Arbeitsort hätte wechseln wollen. Aber ihre vier Kinder gingen alle in Rohrbach in den Kindergarten und dann zur Schule. Deshalb habe sie es schliesslich bleiben lassen.

Unterschriftensammlung wegen «lediger» Schwangerschaft
Als Lea Junger vor 44 Jahren ihre Arbeit im Kindergarten an der Bahnhofstrasse aufgenommen hat, gab es dort noch kein Telefon. «Die Verantwortlichen hatten Angst, dass die junge Kindergärtnerin zu viel telefoniert», sagt Lea Junger und schmunzelt. Wenn es einen Notfall gab, musste sie rüber zum benachbarten Metzger rennen, um zu telefonieren. Kurz nach Stellenantritt wird die Kindergärtnerin erstmals schwanger. Sie war nicht verheiratet. Im Dorf sammelten die Leute Unterschriften, um die junge Pädagogin loszuwerden. «Es gab Leute, welche die Strassenseite wechselten, wenn sie mir im Dorf begegnet sind.» Lea Jungers Vorgesetzter hielt an ihr fest.

900 Kinder begleitet
Rund 900 Kinder begleitete die vierfache Mutter durch den Kindergarten und machte sie fit für die Schule. Dabei kam es des Öfteren vor, dass sie Kinder betreute, deren Eltern auch schon zu ihr in den Kindergarten gekommen waren. «Ich hatte ein Kind, das Schwierigkeiten beim Basteln hatte. Genau wie schon sein Vater vor über 30 Jahren. So gab es immer wieder Parallelen, wenn ich zwei Generationen bei mir hatte», erzählt die baldige Pensionärin. Lea Junger ist eine Pädagogin der «alten Schule» – liebevoll, mit der nötigen Portion Strenge. «Deshalb hatten mich wohl einige Eltern nicht so gern.»  Sie sei immer von Anfang an sehr streng mit den Kindern gewesen. «Dann kann ich loslassen und sie mit den Augen führen.» In der heutigen, schnelllebigen Zeit wird Lea Junger zweifellos eine grosse Lücke hinterlassen. Gerade mit ihrer Art hat sie den Kindern den sicheren Rahmen geboten, den sie für eine gesunde Entwicklung brauchen.

Gemischte Gefühle
Nur noch wenige Wochen ist sie im Amt. «Mit gemischten Gefühlen» blicke sie ihrer Pensionierung entgegen. «Die Kinder werden mir bestimmt fehlen – das Vorbereiten sicher auch. Es ist einfach ein cooler Beruf.»
Wie hat sich denn dieser Job über die Jahrzehnte verändert? Zu Beginn ihrer Amtszeit schrieb sie die Elternbriefe noch von Hand. Mit Hilfe einer Matrize konnte sie diese vervielfältigen – Kopiergeräte gab es damals noch nicht. «Die Kinder sind heute beim Spielen nicht weiter als damals. Aber im technischen Bereich sind sie viel versierter. Die Kinder werden mehr animiert als früher. Deshalb haben sie auch eher Mühe, selbstständig ein Spiel zu kreieren», erzählt Junger.
Bei den Eltern fällt ihr auf, dass diese weniger Zeit hätten als früher. Auch würden sich die Menschen im Dorf heute nicht mehr so gut kennen. «Wir hatten früher Väterabende, die bis in die frühen Morgenstunden gedauert haben», sagt die bald fünffache Grossmutter und schmunzelt.
Ja, Anekdoten aus ihren 44 Jahren hat sie viele zu erzählen. Ein Junge habe ihr immer wieder Heiratsanträge gemacht. Sie hätte ihm gesagt, wenn er dann im Alter zum Heiraten wäre, sei sie viel zu alt für ihn. «Irgendwann hat er es mir abgekauft.» Oder ein Junge habe sie immer küssen wollen. «Das musste ich dann abstellen.» Und in der Schwangerschaft: Ein Kindergärtner habe beobachtet, wie sie Stopfwatte eingepackt und mit auf einen Ausflug genommen habe. Dieser habe sie später gefragt, was sie eigentlich in ihrem grossen Bauch verstecke. «Ich sagte, da ist mein Kind drin. Er meinte nur, ich solle nicht lügen, ich hätte doch die ganze Stopfwatte reingesteckt.»
Es gibt auch gefährliche Momente in den vier Jahrzehnten. Vor einigen Jahren fiel ein Junge kopfüber in ein Wespennest. Alle Kinder wurden gestochen. «Der Junge hatte rund 50 Wespenstiche. Ich konnte mit dem Handy seine Mutter erreichen. Sie holte ihn ab und brachte ihn ins Spital. Zum Glück lief alles gut. Dort hatte ich richtig Angst.»

Ihrer Zeit voraus
Ihre letzten Wochen verbringt Lea Junger mit den Kindern am Bodenbächli im Bauwagen. Seit über 20 Jahren finden jeweils die fünf letzten Wochen vor den Sommerferien draussen statt. «So müssen sich die Kinder in einem anderen Lebensort zurecht finden. Ausserdem laufen wir viel. Das ist für die Kinder streng, kommt ihnen aber bestimmt zugute.» Lea Junger ist eine Vorreiterin. Obwohl sie vier Kinder geboren hat, arbeitete sie ihr Leben lang 100 Prozent. Damit ist sie ihrer Zeit weit voraus. Nun endet ihre 44-jährige Amtszeit als Rohrbacher Kindergärtnerin am 7. Juli. Dazu passt ein Song der eingangs erwähnten Band ABBA: «Mamma Mia».

Von Michael Lüthi