«Die Kirche hat es in der Hand»
Zur Eröffnung der neu renovierten Kirche Geissberg veranstaltete die reformierte Kirchgemeinde Langenthal eine Woche voller Anlässe, darunter auch eine Podiumsdiskussion. Unter dem Titel «Religion und Kirche(n) – Auslaufmodelle oder Hoffnungsträger» war neben der höchsten reformierten Bernerin, Synodalratspräsidentin Judith Pörksen Roder, der Religionssoziologe Stefan Huber eingeladen.
«Viele Gespräche mit kirchlichen Mitarbeitern laufen auf die Frage hinaus, wie man mehr Leute in den Gottesdienst bringt», eröffnete der Verwalter der Kirchgemeinde, Urs Hallauer, den Abend. «Wir sind doch keine Fuhrunternehmen, die Menschen verfrachten wollen», so Hallauer, «wir leben in einer anderen Zeit, es gilt nicht mehr Quantität, sondern Qualität.» Trotzdem müsse man sich die Frage stellen, ob die Kirche eher Auslaufmodell oder Hoffnungsträgerin sei.
Der Frage ging der Religionssoziologe Stefan Huber in seinem Einstiegsreferat nach. Huber studierte in Fribourg katholische Theologie und Psychologie, konvertierte später zur reformierten Kirche und ist seit 2012 Professor für empirische Religionsforschung an der Universität Bern.
Die Institution verliert
Huber startete mit der These, dass die Kirche einerseits ein Auslaufmodell sei, anderseits aber auch neue Möglichkeiten habe. Während der letzten 1200 Jahre habe die Kirche in der Schweiz quasi ein Monopol gehabt, zuerst die Römisch-katholische Kirche alleine, seit der Reformation als Duopol von Reformierter und Katholischer Kirche.
Seit den 1950er-Jahren könne man beobachten, dass sich das Duopol auflöse. Als Erklärungsansatz nannte Huber zwei Theorien: Die Säkularisierung- und die Individualisierungstheorie. Erstere erkläre den Bedeutungsverlust der Kirche mit zunehmender Modernisierung. Je moderner eine Gesellschaft werde, umso weniger Bedeutung hätten alle Religionen. Im Gegensatz dazu gehe die Individualisierungstheorie nicht davon aus, dass das Grundbedürfnis der Menschen an Religion abnehme, viel mehr würde die Frage nach der Religion zu einer individuellen und nicht mehr institutionellen Frage.
Der Glaube bleibt
«Dass die Institution Kirche an Mitgliedern verliert, ist unbestritten, eindrücklich ist der Anstieg der Bevölkerung, welche sich als konfessionslos bezeichnet und mittlerweile bei rund 26 % liegt.» Wenn man aber genau hinschaue, so zeige sich, dass die Religiosität der Bevölkerung per se nicht abnähme. So befragte Huber in einer Studie seine Probanden, ob sie beispielsweise an die Voraussagekraft von Horoskopen oder die Wirkung von Glücksbringern glauben. «Jeder, der einer solchen Aussage zustimmt, glaubt an eine übermenschliche Kraft, die den Menschen beeinflusst, und das sind in den letzten Jahren konstant 80 % der Bevölkerung.» Die Aussage, dass der Glaube abnehme, stimme so nicht, viel mehr verändere sich der Inhalt des Glaubens weg vom institutionellen hin zum individuellen Glauben, so das Fazit des Forschers. Im dritten Teil seines Referats ging Huber auf zwei Strategien ein. «Die Anhänger der Säkularisierungstheorie sind daran, das Rückzugsgefecht der Kirchen zu planen. Sie sind der Ansicht, dass die Schrumpfung kontrolliert werden muss.» Als wichtige Massnahmen nannte der Religionsforscher etwa, dass der Traditionsabbruch gebremst werden müsse. «Viele junge Kirchenmitglieder sind religiöse Analphabeten, weil weder Kirche noch Eltern es geschafft haben, ihnen Tradition und Glauben weiterzugeben.»
Vielfalt, nicht Beliebigkeit
Nicht in einer defensiven, sondern in einer dienenden Haltung stehen diejenigen, welche von der Individualisierungstheorie überzeugt seien. «Die Kirche muss neu lernen, über spirituelle Erfahrungen zu sprechen. Der Glauben ist heute äusserst intim und privat. Darüber spricht man nicht.» Dennoch: Er sei überzeugt, dass der Mensch ein Grundbedürfnis an Glauben und Spiritualität habe. Die Kirchen müssten beispielsweise durch neue spirituelle Räume versuchen, Christen aller Couleur wieder ins Boot zu holen. «In einer solchen Kirche muss es gleichzeitig Platz für Liberale und Evangelikale geben.» Die Vielfalt und nicht die Beliebigkeit seien mögliche Wege, um die Gläubigen zu erreichen.
Kirche nimmt Anteil
Richard Bobst, im Kirchgemeinderat für Veranstaltungen, Gottesdienste und die Renovation der Geissbergkirche, leitete die anschliessende Podiumsdiskussion. Neben Judith Pörksen und Stefan Huber standen Stephan Bösiger, Pfarrer der Gemeinde, und Reto Steiner, Präsident der Kirchgemeinde, Rede und Antwort. In vielem zeigten sich die Podiumsteilnehmenden einig: Die Kirche müsse auf die Menschen zugehen und ihnen den Raum geben, um sich in ihrem eigenen Glauben zu entfalten. «Wir müssen als Kirche Anteil am Leben der Menschen nehmen, ohne dabei etwas überzustülpen oder in einen Aktionismus zu verfallen», so Bösiger, welcher im Langenthaler Pfarrteam für den Gemeindebau zuständig ist. «Das kann heissen, dass wir auf der Marktgasse auf die Leute eingehen und Präsenz zeigen.» Synodalratspräsidentin Pörksen betonte die klare Botschaft der Kirche, welche sie mitten in der Gesellschaft vertreten müsse. «Dazu gehört, dass sich die Kirche nicht auf die Ämter konzentriert, sondern mehr als heute zur Gemeinschaft der Gläubigen wird.»
Gemeinde aktiv einbinden
«Die Kirche ist beauftragt, ihren Beitrag zu einer positiven Gesellschaft zu leisten», so Kirchgemeindepräsident Reto Steiner, «dazu sind nicht seitenlange Konzeptpapiere nötig, sondern viel eher der Blick in die Bibel: Jesus selbst ging aus dem Tempel hinaus in die Gesellschaft.». Dazu gehöre jedoch auch, dass man – wie Jesus – in den Tempel zurückkehre und sich mit dem Kern des Glaubens beschäftigte. «Die Kirchen hat es in der Hand», bilanzierte der Wissenschaftler Stefan Huber auf die Frage, ob die Kirche ein Auslaufmodell sei. Wichtig sei, dass die reformierte Überzeugung des Priestertums aller Gläubigen gestärkt werde. Wer sich in der Kirche engagieren möchte, soll dazu unkompliziert die nötige Unterstützung der Institution erhalten, etwa durch das Bereitstellen von geeigneten Räumen, wie der neu renovierten Kirche Geissberg.
Von Patrik Baumann