• Für die Betreuung Ukrainischer Flüchtlinge im Emmental und Oberaargau hat der Kanton die ORS Service AG beauftragt. · Bild: keystone

  • Lutz Hahn. · Bild: zvg

16.12.2022
Oberaargau

Die ORS reagiert auf kritische Fragen

Der Kanton Bern hat die ORS Service AG mit der Flüchtlingsbetreuung im Emmental und Oberaar­gau beauftragt. Angesichts des weltweiten Personal- und Fachkräftemangels eine Aufgabe, die hohe Anforderungen stellt und auch Grenzen des Möglichen aufzeigt. Gegenüber der ORS wird denn auch offen oder verstohlen Kritik geübt. Hauptvorwurf: Die Aufarbeitung von Anfragen daure zu lange, Geflüchtete und Betreuende wüssten so lange nicht, woran sie sind. Der «Unter-Emmentaler» hat die ORS Service AG mit Fragen konfrontiert und um Stellungnahmen gebeten.

Thomas Peter im schriftlich geführten Interview mit Lutz Hahn, Head of Communication der ORS Service AG

Im schriftlich geführten Interview hält die ORS einleitend fest:
«Die in der Schweizer Bevölkerung gezeigte Solidarität im Engagement für Flüchtlinge ist bis heute einzigartig. Doch je länger die Krise dauert, desto lauter wird der Ruf nach staatlicher Übernahme von Unterbringungs- und Betreuungsleistungen. Als mandatierte Partnerin unterstützt ORS in der Region Emmen-tal-Oberaargau die kantonalen Behörden.
Wir bedauern, dass der Eindruck entstanden ist, ORS hätte die Anliegen von Schutzsuchenden und von involvierten politischen Gemeinden, Kirchen und Freiwilligen nicht ernst genommen. Neben dem enormen Arbeitsdruck haben wir eine teilweise kritische bis ablehnende Haltung gegenüber unserer Arbeit verspürt. Mit Fehlinformationen, Vorurteilen und unsachgemässer Medienberichterstattung wurde in der Vergangenheit Stimmung gegen ORS gemacht, die sich bei näherem Hinsehen als nicht haltbar erwiesen hat. Statt sich in der grössten Flüchtlingskrise seit dem
2. Weltkrieg gegenseitig mit konstruktiver Zusammenarbeit zu entlasten, wurde die im Kampagnenstil geführte Kritik zur zusätzlichen Belastung. Diese Vorgehensweise ist kontraproduktiv.»

Drei Erfahrungsberichte
Der «Unter-Emmentaler» schilderte der ORS Service AG drei Erfahrungsberichte mit anschliessenden Fragen, zu der die ORS schriftlich Stellung nahm:
Philippe Groux, Präsident der katholischen Kirchgemeinde Langenthal, schil-derte am Rande einer Kirchgemein-de-versamm-lung gegenüber dem «Unter-Emmentaler» von der schwierigen Situation rund um Flüchtlinge aus der Ukraine, die in einer Liegenschaft der Kirchgemeinde untergebracht wurden. So sei der Fall sehr fordernd, weil die Familie in zwei Kantonen angemeldet gewesen sei, die Abmeldung im Kanton Zürich nicht funktioniert hat und es der Kanton Bern bei der Registrierung nicht gemerkt hat. «Es hat Monate gedauert, um die Situation zu lösen. Unter anderem wurde die Asylsozialhilfe eingestellt, bis der Fall gelöst war. Das lag nicht nur an der ORS AG, aber auch», erklärt der Kirchgemeindepräsident. Man habe die ORS um Unterstützung gebeten. Die Anfragen an die ORS blieben zwar nicht gänzlich unbeantwortet, jedoch komme die Lösung der Fälle nur schleppend voran. Nach mehrfachem Nachfragen wurde der Kirchgemeindepräsident um Nachsicht gebeten, da zu jenem Zeitpunkt rund 400 Mailanfragen mangels Ressourcen noch offen seien, so auch die der Kirchgemeinde. Inzwischen sei ein dossierverantwortlicher Sozialarbeiter eingestellt worden. «Dieser reagiert in der Regel recht schnell auf die Mails, ohne dass die Lösung der Fälle rascher stattfindet. Die Leidtragenden sind immer die ukrainischen Flüchtlinge, und auch wir sind mehrmals finanziell eingesprungen», erklärte der Kirchgemeindepräsident.

Nach welchen Kriterien wird die Dringlichkeit von Anfragen eingeteilt und priorisiert beantwortet?
Lutz Hahn:
Zu anonym geäusserten Vorwürfen nehmen wir grundsätzlich keine Stellung. Erst auf unser Nachfragen hin haben Sie den Namen der Kirchgemeinde Langenthal erwähnt. Darum gehen wir hier kurz auf den geschilderten Fall ein: Im Auftrag des Kantons Bern zahlt ORS an die zu betreuenden Personen gemäss vom Kanton festgelegten Budget Unterstützungsgelder aus. Aufgrund der Mehrfachanmeldungen dieser Flüchtlinge in verschiedenen Kantonen musste erst von den Behörden die Rechtmässigkeit der Anspruchsberechtigung geprüft werden. ORS hatte darauf keinen Einfluss. Es kommt zu Verzögerungen, wenn die Anspruchsberechtigten ihre Mitwirkungspflicht verletzt haben und zum Beispiel auf Briefe nicht reagieren oder wenn die Vormonatsbudgets nicht unterschrieben retourniert wurden. Diese Situation lag möglicherweise auch in dem geschilderten Fall vor.

Wer beurteilt, was wichtig ist und was warten kann?
Anfragen werden gleichentags an die zuständigen Sachbearbeitenden sowie Sozialarbeiterinnen und -arbeiter weitergeleitet. Die fallführende Person entscheidet zusammen mit der Teamleitung über die Dringlichkeit. Jedes einzelne Anliegen ist aus Sicht der Verfasserinnen oder des Verfassers wichtig, aber es kann aufgrund der sehr hohen Anzahl von zu bearbeitenden Fällen zu Verzögerungen kommen.

Wie viele Mitarbeitende beantworten Anfragen?
Wir konnten das Personal um zusätzlich 30 Mitarbeitende aufstocken und den Pendenzenberg abbauen.

Wie wollen Sie künftig verhindern, dass es zu einer solchen Ansammlung von offenen Fällen kommt?
Anfänglich war die Situation aufgrund des enormen Flüchtlingszustroms für alle Beteiligten bei Behörden, Betreuungsorganisationen und Helferkreisen neu. Inzwischen konnte aus den Erfahrungen gelernt werden. Die Prozesse wurden geschärft und weiterentwickelt und die Zusammenarbeit intensiviert.

Mit was für einer durchschnittlichen «Durchlaufzeit» müssen Anfragende rechnen, bis sie eine Antwort erhalten beziehungsweise eine Lösung angeboten werden kann?
Das ist abhängig von dem zu lösenden Problem und kann nicht pauschal beantwortet werden.

Kann die ORS zum aktuellen Zeitpunkt mit dem ihr zur Verfügung stehenden Personal garantieren, dass sie in der Lage ist, den öffentlichen Auftrag der Flüchtlingsbetreuung im Emmental und Oberaargau vollumfänglich, also zu 100 Prozent, entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen zu bewerkstelligen?
Ja.

Wie will die ORS angesichts des weltweiten Fachkräftemangels genügend ausgewiesenes Personal finden, um das neue Integrationszentrum für rund 240 Flüchtlinge in Sumiswald aufbauen und führen zu können?
In der Schweiz herrscht nicht nur ein Mangel an Fachkräften, sondern ein allgemeiner Arbeitskräftemangel. Das hat auch Auswirkungen auf den Migrationsbereich. Für die Betreuung in der neuen Kollektivunterkunft in Sumiswald steht genügend Personal zur Verfügung. Die längere Vorlaufzeit von der Ankündigung bis zur tatsächlichen Inbetriebnahme der Einrichtung hat uns Zeit für die erfolgreiche Rekrutierung weiteren Personals gegeben. Dennoch sind aktuell noch sechs Stellen unbesetzt.

Werden Zusatzkosten verrechnet?
Ein Solothurner Gemeinderat berichtete darüber, dass zwar ein Leistungs-vertrag zwischen der Gemeinde und der ORS bestehe, die ORS aber viele Dienstleistungen zusätzlich verrechne, die nach Ansicht des Gemeinderates Bestandteil des Leistungsvertrages sein müssten. Die ORS begründe diese «Zusatzkosten» damit, dass das Mass des Üblichen weit überschritten sei und man diese Dienstleitungen zusätzlich verrechnen müsse.

Wie verbindlich sind solche Leis-tungs-verträge für die ORS? Wird hier nach intern genau festgelegten Fallzahlen operiert? Werden diese Fallzahlen transparent kommuniziert? Wissen die Vertragspartner, wie hoch diese sind, die in der Pauschale enthalten sind und was für zusätzliche Kosten entstehen, wenn diese Grenze überschritten ist?
Der Fall aus der Solothurner Gemeinde ist uns so nicht bekannt. Anonym in Medien vorgebrachte Anschuldigungen können wir nicht kommentieren. Wir antworten an dieser Stelle auf die besondere Situation im Kanton Bern. Anders als die Behauptung eines von Ihnen erwähnten Gemeindepolitikers hat ORS im Kanton Bern keine Leis-tungsverträge mit Gemeinden abgeschlossen. Wir sind ausschliesslich vom Kanton mandatiert und rapportieren direkt an die GSI (Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion) – inklusive Fallzahlen. Dennoch nehmen wir im Dreieck Kanton, Gemeinde und Betreuungsorganisation eine koordinierende Rolle ein, ohne dies Gemeinden in Rechnung zu stellen.

Für Rückreise fehlte das Geld
Uns wurde von einem Kirchenvertreter ein konkreter Einzelfall geschildert mit menschlich grosser Tragweite. Eine
Ukrainerin, die mit ihrer Tochter in die Schweiz geflohen ist, sah sich gezwungen, in die Ukraine zurückzureisen, um wichtige Dokumente und Gerätschaften zu holen, die sie bei der Flucht hatten zurücklassen müssen. Diese benötigten sie, um ihren angestammten Beruf in der Schweiz ausführen und sich so eine Existenz aufzubauen zu können. Die Anschaffung der Geräte in der Schweiz können sie sich nicht leisten, in der Ukraine waren sie vorhanden.
So reiste die Mutter zurück in eine Region, die in jener Zeit von den Russen mit Raketenangriffen stark bombardiert wurde. Die Hinreise konnte sie knapp finanzieren, für die Rückreise war sie auf den Beitrag angewiesen, den ihr die ORS hätte überweisen sollen. Das Geld wurde dann aber von der ORS fälschlicherweise an eine Frau mit gleichem Nachnamen aber anderem Vornamen überwiesen. Auf Nachfrage der Tochter, ob, wann und wie das dringend benötigte Geld überwiesen werde, erklärte ihr die ORS, dass man dem Fall nachgehen werde. Es vergingen Tage in Angst und Sorge um die Mutter, von der ORS war nichts zu hören. Wegen strukturellen und bürokratischen Hindernissen war so eine Frau über mehrere Tage hinweg der Gefahr ausgesetzt, bei einem Raketenangriff ihr Leben zu verlieren. Schliesslich erfuhr ein Pfarrer von der Geschichte und gab der Tochter das Geld (etwas mehr als 100 Franken) aus einem Notfall-Kässeli, so dass die Mutter die Rückreise bezahlen konnte.

Was sagen Sie zu dem Vorfall?
Der geschilderte Fall ist uns so nicht bekannt. Jede einzelne von uns betreute Person wird mit Respekt behandelt und ernst genommen. Uns ist bewusst, dass jedes einzelne Anliegen aus Sicht der Verfasserinnen und Verfasser wichtig ist. Klare Vorgaben und Strukturen helfen, alle Anliegen gleich zu behandeln. Es kommt immer wieder zur Abwesenheit von zu unterstützenden Personen, und wenn keine Meldung über eine Ausreise aus der Schweiz erfolgt, kann es zu Verzögerungen kommen. Dafür kann ORS allerdings keine Verantwortung übernehmen.

Wie konnte es geschehen, dass das Geld an eine falsche Person ausbezahlt wurde?
Bei gleichlautenden Namen ist die Verwechslungsgefahr sicherlich höher. Dass es zu einem Fehler gekommen ist, bedauern wir.

Ist das ein bedauerlicher Einzelfall oder gehört das gar zur Tagesordnung bei der ORS? Wie wollen Sie solche Vorfälle künftig vermeiden? Und es stellt sich auch folgende Frage: Inwieweit stehen bei der ORS starre Strukturen über dem Einzelschicksal von geflüchteten Menschen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass es in diesem konkreten Fall um einen so kleinen Beitrag von etwas mehr als 100 Franken geht.
Jeder Fehler ist einer zu viel. Wir nehmen jedes Anliegen ernst und versuchen bestmöglich, Lösungen anzubieten. Durch die bewährten Prozesse und die gesammelten Erfahrungen setzen wir uns für ein gutes Miteinander ein. Wir handeln im Spannungsfeld zwischen den zu betreuenden Menschen und den auftraggebenden Behörden gemäss unseren Werten neutral, flexibel und achtsam.