Die Schwarze Spinne – Gotthelf hat es geahnt
Jeremias Gotthelf war nie der rückwärtsgewandte, hinterwäldlerische und reaktionäre «Bauerndichter», als der er immer wieder dargestellt wurde und wird. Gerade in der aktuellen Coronavirus Pandemie wird dies deutlich. Höchste Zeit also, den Emmentaler Schriftsteller mit andern Augen zu sehen
Lützelflüh · 1842 erschien Gotthelfs Novelle «Die schwarze Spinne». An einem Tauffest auf einem prächtigen Emmentaler Bauernhof erzählt der Grossvater die Geschichte des auffälligen, dunklen, alten Pfostens im neuen Haus. Im Mittelalter verbreitete nach einem Pakt mit dem Teufel eine schwarze Spinne Tod und Verderben in Form von Pestepidemien und Tierseuchen – ausgelöst durch des Menschen Überheblichkeit, Gottlosigkeit und Masslosigkeit. Eine junge Frau, deren Kind die schwarze Spinne bedrohte, bereitete ein Loch in einem Fensterpfosten, einem Bystal, vor, wartete auf die gefährliche Spinne, packte sie mutig und sperrte sie in den Pfosten ein. Und verschloss das Loch mit einem Zapfen. Die Gefahr war gebannt, die Menschen erlöst. Der Grossvater fährt weiter. Jahrhunderte später, Hochmut und Hoffart hatten längst die Demut von damals abgelöst, wurde die Spinne in wahnwitzigem Übermut aus ihrem Gefängnis befreit. Erneut grassierte grauenvoll die tödliche Pest, bis endlich ein junger Bauer beherzt die Spinne wiederum in den alten Bystal einsperrte. Und sie blieb bis zum heutigen Tag eingesperrt, endet des Grossvaters Erzählung – und die Spinne werde eingesperrt bleiben, solange der «alte Sinn» im Haus wohne.
Aber, wir ahnen es: Sie könne jederzeit wieder ausbrechen. Die tiefere Symbolik der eingesperrten Gefahr im Bystal ist offenkundig. Das Menetekel bleibt, die Spinne ist nicht besiegt, bloss eingesperrt. Doch nun scheint es, als sei sie wiederum ausgebrochen.
Erstaunliche Parallelen
Die Mutter und der Bauer befreien durch ihre mutige Tat die Menschen vom Übel der Epidemie, verlieren aber dabei ihr Leben – ganz ähnlich wie die Ärzte und das Pflegepersonal heute in den Spitälern, die an vorderster Front gegen das Virus kämpfen und damit ihr Leben riskieren und auch schon verloren haben.
Erstaunlich auch dies: Der Ritter Hans von Stoffeln, auf dessen menschenverachtendes Handeln die Pestepidemie letztlich zurückgeht, feiert noch lange und bechert im Rittersaal – auch wenn ihm die schwarze Spinne schon auf dem Kopf hockt. Er erkennt den Ernst der Lage nicht in seiner Einfalt und Blödheit. Wie gewisse Politiker in den USA oder in Brasilien, die noch immer Party feierten und Hände schüttelten, als das Virus schon lange bei ihnen angekommen war. Auch hier hat Gotthelf die Dummheit der Menschen richtig erkannt und treffend beschrieben. Er ist eben nicht bloss ein «harmloser» Dorfschriftsteller.
Von Werner Eichenberger