«Die schwierigste Zeit meines Lebens»
Im Haus des Sports in Ittigen brach der 34-jährige Mountainbiker Mathias Flückiger sein Schweigen und äusserte sich detailliert und gefasst über die schwierigste Zeit seines Lebens. Der Leimiswiler darf nach der aufgehobenen Sperre wieder Rennen fahren, ist aber noch nicht freigesprochen.
Radsport · «Das ist kein Dopingfall. Hier wurde ein Unschuldiger verurteilt», sprach Dopingexperte Matthias Kamber an der Medienkonferenz im Haus des Sports in Ittigen Klartext. Dr. phil. nat. Matthias Kamber ist der bekannteste Dopingjäger der Schweiz. Drei Jahrzehnte lang hat er alles unternommen für einen sauberen Sport. Er tritt im Fall als wissenschaftlicher Berater von Mathias Flückiger auf. «Ich will keine möglichen Doper vertreten. Aber ich will Sportler schützen, die schuldlos eine positive Probe abgegeben haben. Mit meinem Wissen und mit meiner jahrelangen Erfahrung schliesse ich bei Mathias Flückiger einen Dopingfall aus», so der Experte nach Abklärungen mit vielen Spezialisten.
Was ist passiert?
An der Schweizer Meisterschaft im Juni 2022 wurde Mathias Flückiger getestet. Die Probe enthielt minime Spuren von Zeranol. Das Dopinglabor Lausanne informierte Swiss Sports Integrity (SSI) über dieses «Atypical Finding» in Form von 0,3 Nanogramm Zeranol, einem Resultat also unter dem Grenzwert. Erst am 18. August – einen Tag vor dem EM-Rennen in München – wurde Mathias Flückiger von der SSI über den Befund informiert und provisorisch gesperrt. Flückiger reichte am 16. September Einsprache gegen die Sperre ein. Die Sperre wurde von der Disziplinarkammer von Swiss Olympic am 17. Dezember per sofort aufgehoben, weil diese aufgrund des «Atypical Finding» nie hätte ausgesprochen werden dürfen. Es handelte sich um ein atypisches Resultat und nicht eine positive Probe.
Kontamination wahrscheinlich
«Zeranol wird nicht als Dopingmittel verwendet und ist nicht leistungssteigernd. Eine Mikro-Dosierung über eine längere Zeit würde nichts bringen. Im Gegenteil: Anders als andere Anabolika wirkt sich Zeranol auf sportliche Leistungen eher negativ aus», erklärte Kamber. Und der Fachmann lieferte gleich ein Beispiel: «Ein Gramm Würfelzucker in einem Olympia-Schwimmbecken mit 4,75 Millionen Liter Wasser aufzulösen, hätte etwa dieselbe Wirkung wie der gefundene Wert des Zeranols in Flückigers Körper.» «Vieles deutet auf eine Lebensmittelverunreinigung hin», erklärte Rechtsanwalt Dr. Thilo Pachmann, Flückigers Rechtsanwalt, der für die juristischen Sachen in diesem Fall verantwortlich zeichnet. Wie die 0,3 Nanogramm Zeranol pro Milliliter in Flückigers Urin gelangten, kann allerdings nicht fix beantwortet werden. «Die Kontamination durch ein Lebensmittel scheint klar. Mathias Flückiger hat Fleisch aus Brasilien und Ungarn gegessen. Dies im Nachgang zu belegen, ist aber sehr schwierig», sagte Matthias Kamber. Fakt ist: Ma-thias Flückiger wurde sechs Tage vor der Schweizer Meisterschaft in Leysin sowie fünf Tage nach seinem SM-Titel unmittelbar nach seinem Weltcupsieg in Leogang in Österreich getestet. Resultat: Beide Dopingkontrollen fielen negativ aus ...
Alle Werte in Frage gestellt
Lange schwieg der Betroffene über das Geschehene, auch wenn – gerade in der Gegend seines Zuhauses – der Informationsdurst gross war. «Der Mensch Mathias Flückiger stand nach dieser Beschuldigung im Mittelpunkt. Wir wollten nicht einfach irgendetwas kommunizieren, mussten uns zuerst eine Übersicht verschaffen, da wir von gar nichts wussten», erklärte Flückigers Mediensprecher Christian Rocha und schob auch gleich noch seinen Standpunkt hinterher: «Wenn ‹Math› mit Epo gedopt hätte, würde ich jetzt nicht hier stehen. Dann würde ich ‹Math› nicht kommunikativ begleiten – weil ich einen Doper nicht unterstützen würde.» Über ein halbes Jahr nach der Beschuldigung legte Mathias Flückiger das Schweigen ab. «Der 18. August war der Tag, an dem ich eine Stufe vor dem Abgrund stand. All meine Werte, für die ich mein ganzes Leben lang stand, wurden von der einen auf die andere Sekunde infrage gestellt. Ich habe alles verloren, was ich mir zusammen mit meiner Familie und meinem Umfeld aufgebaut hatte», so Flückiger. «Meine sportlichen Erfolge mit der Olympiamedaille, mehrere WM-Podeste und der Gewinn des Gesamtweltcups vorneweg waren auf einmal wertlos. Ich wurde aus der Sportart herausgerissen, welche für mich eine riesige Leidenschaft bedeutete.»
Grosse Unterstützung
Flückiger habe in den ersten Tagen nicht gewusst, ob er die auferlegte Last überhaupt tragen könne. Während der «schwierigsten Zeit meines Lebens» durfte er auf den Support seines engsten Umfeldes zählen. «Meine Freundin Lisa hat extra ihre Stelle als Lehrerin gekündet, um mir beizustehen. Mein Bruder Lukas hat ein Team geformt, welches mich durch die dunkle Zeit getragen hat.»
Zurück in der Schweiz verbrachte Mathias Flückiger die erste Zeit an einem abgeschirmten Ort, also nicht daheim in Leimiswil. «Es brauchte viele Tage, bis ich mich erstmals wieder nach draussen wagte. Nicht, weil es mir körperlich schlecht ging, sondern weil ich mich derart davor fürchtete, dass ich Leuten begegne, die mich verurteilen, obwohl ich ein reines Gewissen habe.» Bei einem Schicksalsschlag sei es normal, dass die Leute Mitleid zeigen. In seinem Fall sei aber das Gegenteil der Fall gewesen. Mit ihm habe niemand Mitleid gehabt. «Weil sie das Gefühl hatten, dass ich etwas getan habe.» Vier Wochen lang schaltete er sein Handy nicht an. Die Unterstützung seiner Liebsten war enorm wichtig. «Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich null Hoffnung auf irgendetwas hatte.» Die Leere nagte an Flückiger, frass ihn dank professioneller Hilfe aber nicht auf. «Als ich nach zwei Wochen mit Lisa erstmals wieder nach draussen ging – wir waren im Wald – konnte ich wieder etwas durchatmen.» Der Gedanke, wieder auf das Bike zu sitzen, war aber weit weg. «Für mich war klar, dass ich nie mehr an einer Startlinie stehen werde und mich nie mehr für das Mountainbike-Renngeschehen interessieren würde. Zu gross war der Schmerz.» Es kam anders. Flückiger stieg immer öfters auf das Bike. «Mit jeder Fahrt kehrte die Lebensfreude etwas zurück. Es ist meine grosse Leidenschaft, erfüllt mein Leben. Bis in den November sah ich die Fahrten aber nie als Training an.» Es war ganz klar Flückigers wichtigste Therapie. «Was ich durchmachen musste, wünsche ich keinem anderen Menschen. Verurteilt zu werden für etwas, was du nicht getan hast.»
Das verfrühte Weihnachtsgeschenk
Viel Licht und Hoffnung erlebte Mathias Flückiger am 17. Dezember. «Ich war mit Lisa in Disentis am Wandern, als mir ‹Luk› telefonierte und mitteilte, dass die Sperre aufgehoben ist.» Die Erleichterung war riesig. «Es war ein Signal nach draussen, dass bei dieser Probe nicht alles korrekt abgelaufen ist.» Indiz dafür war auch die Tatsache, dass eine Haarprobe von Flückiger negativ ausfiel. Keine Spuren von Zeranol waren zu finden. Bei Mathias Flückiger weckte es den Wettkampftypen. «Ich war wieder motiviert, setzte mir zum Ziel, wieder Rennen zu fahren.» Und so kehrte «Math» zum pickelharten Training zurück. Stets mit dem Gedanken im Kopf, im Mountainbike-Zirkus wieder ganz vorne mitzumischen. So tastete sich der Leimiswiler wieder ins Geschehen zurück. Ende Februar kehrte Mathias Flückiger zu seinem Team «Thömus maxon» zurück. Im spanischen Girona absolvierte das Team ein Trainingslager. Abgeschlossen wurde dieses mit einem Testrennen im 30 Kilometer entfernten Banyoles, wo ein Grossteil der Mountainbike-Weltspitze an den Start ging. «Math» belegte mit nur 29 Sekunden Rückstand auf den siegreichen Südafrikaner Alan Hatherly als bester Schweizer den 6. Rang.
Ein warmer Empfang
«Es tat gut, wieder in der Rennszene zurück zu sein. Es war ein super Erlebnis und tat mir sehr gut. Gerade auch, weil ich Respekt und auch ein bisschen Angst davor hatte. Ich wurde aber von allen Rennkollegen sehr warm und herzlich aufgenommen worden.» Kein Shitstorm und Trashtalk. Zurufe wie «welcome back» und «nice to see you again» seien Balsam auf die Wunden gewesen. «Das Resultat spielte überhaupt keine Rolle. Für mich war es ein Meilenstein, nach dieser Geschichte überhaupt wieder an der Startlinie eines Rennens zu stehen.» Den offiziellen Saisonstart gibt Mathias Flückiger am 19. März beim Auftakt des diesjährigen Swiss Bike Cups in Gränichen. Der Weltcup-Auftakt erfolgt Anfang Mai im holländischen Valkenburg. Die WM als Saisonhöhepunkt findet im August in Schottland statt. Vorausblicken mag «Math» aber nicht. «Ich nehme Tag für Tag. Mache keine Pläne. Ich möchte einfach das tun, was ich am liebsten tue: Mountainbiken.» Ab wann der 34-jährige Leimiswiler dies völlig ohne Rucksack tun kann, ist unklar.
Die SSI ist gefordert
Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Nach der Aufhebung der Sperre durch die DK ist wieder die SSI, die nicht alle Punkte der Welt-Anti-Doping-Agentur eingehalten habe, gefordert. Die Beurteilung des eigentlichen Sachverhaltes ist Gegenstand der Abklärungen im Resultatmanagementverfahren, das derzeit im Gange ist. Wann die Schweizer Anti-Doping-Agentur das Resultat bekannt gibt, ist unklar. Doch ein schneller Freispruch wäre für Mathias Flückiger eine Erlösung. Wichtig wäre dieser auch aus finanzieller Sicht. Flückiger lebt momentan von seinem Ersparten. Das Verfahren kostet viel Geld. Flückigers Sponsoren sind nicht abgesprungen, sie warten ab, wollen Klarheit. Die Sponsorengelder sind derzeit eingefroren. Noch ausstehend ist ein Gespräch mit dem Radsportverband «Swiss Cycling». «Dies ist aber in Planung», sagt Flückiger. Und wichtig, weil die Rückendeckung des Verbandes, der in seiner Pressemitteilung am 18. August die Fehlmeldung «positiver Dopingtest» verkündete, für einen reibungslosen Wettkampfbetrieb auf Weltniveau nötig ist.
Von Stefan Leuenberger