Die Wehmut der Hirten, wenn die Rinder gehen
Die drei Hirtschaften Alp Farnli, Alp Krähenbühl und Alp Obere Scheidegg fahren am kommenden Freitag, 16. September, mit ihren Sömmerungsrindern in den Wasen zum Rössli ab. Die drei Hirtschaften sind Teil der Emmentaler Alpabfahrt Hornbach-Wasen-Sumiswald, bei der über 850 Rinder ins Tal zurückkehren. Ein spezieller Tag für alle Hirtschaften, einer mit vielen verschiedenen Emotionen.
«Der Sommer war schon recht trocken, aber es war ein guter Sommer», sind sich die drei Hirtschaften einig. Das Wasser reichte bei allen einigermassen. «Mit Ausweichen auf verschiedene Weidebrunnen und mit dem hauseigenen Reservoir hat auch das Wasser gereicht», sagt Katja Häusler von der Alp Farnli. Und das Futter reicht einfach gerade bis zum Abfahren. «Zwischenzeitlich mussten wir schon etwas bangen, ob wir die Rinder wirklich bis am 16. September bei uns behalten können. Wir haben von Woche zu Woche geschaut, wie es mit dem Gras und dem Wasser aussieht, und haben es genommen, wie es kam», sagt Katja Häusler. Aber so gesehen, sei es gut verlaufen. «Wenn es plötzlich nass und kalt geworden wäre, hätten wir die Rinder eher zurückgeben müssen. Denn dann hätten die Rinder das alte Gras nicht mehr gefressen und neues wäre kaum nachgewachsen», erklärt sie. «Der Regen war sehr gut und wir waren dankbar dafür», sagt etwa Erich Waeber von der Alp Krähenbühl. «Aber genützt hat er für die restliche Zeit des Alpsommers nicht mehr viel, die Weiden waren vorher zu trocken gewesen und das junge Gras fehlt jetzt trotzdem.»
Der Alpsommer
Rund 100 Tage sind die Rinder auf den verschiedenen Alpen. Bevor aber die Rinder anfangs Sommer jeweils von den Bauern auf die Alp gebracht werden, heisst es für die Hirtenfamilien die Weiden bereit zu stellen. Viele Kilometer Draht und einige tausend Pfähle werden gezogen und eingeschlagen. Die Weiden werden gepflegt und vom Unkraut befreit. Und wenn dann die Rinder da sind, heisst es, sich erst einmal aneinander gewöhnen. «Wir stallen unsere rund 74 Sömmerungsrinder jeden Tag ein und lassen sie in der Nacht auf die Weide», sagt Katja Häusler. So habe sie den besseren Überblick, wie es den Tieren geht, ob eines krank oder ob eines brünstig ist und besamt werden muss. «Wir hatten zu Beginn mit dem Zeckenfieber und Lungenentzündungen zu kämpfen», erzählt die 29-Jährige. Da helfe es eben schon, wenn man die Tiere jeden Tag einstalle und gut beobachte. Zu den Sömmerungsrindern haben die drei Hirtschaften ihre eigenen Tiere und landwirtschaftliche Nutzflächen zu versorgen, was unter anderem auch Heuen und Emden bedeutet. Die Familie Markus und Irma Zemp von der Alp Obere Scheidegg versorgt rund 30 fremde und ihre eigenen Rinder und Kühe während des Sommers. Da die Familie nicht auf der Alp wohnt und im Luthern-Bad noch den eigenen Tal-Betrieb betreibt, sind sie auf die Hilfe des Bruders Philipp Zemp angewiesen. «Ohne meinen Bruder würde es nicht gehen», sagt Markus Zemp dankbar. Erich und Ruth Waeber haben rund 90 Rinder während des Sommers auf ihrer Alp. Auch sie sind ein Familienbetrieb und dankbar für die Unterstützung ihrer erwachsenen Kinder. Katja Häusler übernahm die Pacht des Farnli, das knapp einem Dutzend Bauern gehört, im Jahr 2021 von ihren Eltern Hans und Hedy Häusler, die sie weiter tatkräftig unterstützen.
Abfahren als krönender Abschluss
Der Tag des Abfahrens fängt immer sehr früh an und die Nacht davor ist kurz. Denn am Tag vor der Abfahrt werden Blumengestecke gebunden und die Rinder herausgeputzt. Die meisten Blumen für die liebevoll gebundenen Gestecke stammen aus dem eigenen Garten und werden extra für die Abfahrt gepflanzt.
«Mein Abfahrts-Tag beginnt etwa um 4.30 Uhr frühmorgens», sagt Katja Häusler. Ihre eigenen Tiere wollen vor dem Abfahren auch noch versorgt sein. Dann geht es ans Umbinden der Treicheln und Glocken und das aufbinden der Gestecke. Bei Katja Häusler sind jeweils rund 20 Erwachsene und Kinder, die an diesem Tag mithelfen. «Man ist schon sehr angespannt und bangt, dass alles gut gehen wird», sagt die Farnli-Hirtin. «Die Rinder spüren, dass es jetzt nach Hause geht, und ziehen stark Richtung Tal», erklärt sie. Es sei nicht immer einfach, sie im Zaum zu halten, es seien schlussendlich Tiere. Markus Zemp ergänzt: «Wir haben die Verantwortung für die Tiere und wollen sie den Bauern gesund wieder zurückgeben – da ist man einfach etwas angespannt.» Die drei Hirtschaften haben einen gut zwölf Kilometer langen, über zweistündigen Fussweg vor sich, bis sie ihr Ziel, das Rössli im Wasen, erreichen. Dort werden die Rinder von ihren Besitzern in Empfang genommen. «Mehr als die Hälfte unserer Rinder werden von ihren Besitzern anschliessend zu Fuss nach Hause gebracht. Das ist mit ein Grund, weshalb wir nicht bis nach Sumiswald gehen», erklärt Erich Waeber. Katja Häusler sagt: «Nach Sumiswald wäre es noch einmal eine Stunde mehr. Einige Rinder sind bereits hoch trächtig und schwer, so können wir sie auch schonen.» Zudem hätte es in Sumis-wald auch gar nicht für alle Rinder der elf abfahrenden Hirtschaften Platz, ergänzt Markus Zemp.
Nachdem die Rinder den Bauern übergeben wurden, geht Familie Häusler mit allen helfenden jeweils in das «Grütli» essen. Ein erstes Durchatmen und eine grosse Dankbarkeit, wenn alles gut gelaufen ist, überkommt sie. Das Abfahren ist mit viel Arbeit verbunden und dennoch ist es für die Hirten der krönende Abschluss. «Wir sind den Bauern sehr dankbar, dass sie uns die Rinder anvertrauen und auch mithelfen, dass wir Abfahren können», sagt Katja Häusler. Denn diese könnten die Rinder auch mit dem Viehtransporter abholen, das wäre für alle weniger aufwändig. «Es ist schön, dass auch sie an der Tradition festhalten und den grösseren Aufwand in Kauf nehmen», sagt sie.
Der Stall ist nun leer
Später am Abfahrts-Nachmittag kehren die Hirtenfamilien auf ihre Alpen zurück und treffen dort auf einen leeren Stall. Es ist still und in den Hirtenherzen breitet sich eine Leere aus. «Es ist mit Augenwasser verbunden», sagt Katja Häusler. «Wir sehen die Rinder gerne kommen, aber auch gerne wieder gehen», erklärt Erich Waeber: «Es ist eine Entlastung für uns, wenn die fremden Rinder weg sind», ergänzt Markus Zemp. «Es soll und darf einem auch reuen, wenn die Rinder im Herbst wieder weg sind», meint Katja Häusler. Nach dem Abfahren, wenn der Stall ausgemistet und gewaschen ist, geht es daran, die Weidezäune wegzuräumen. Der Mist wird ausgeführt und die Gülle auf das Feld gebracht. Bald kommt der Winter, während dem Holz gefällt und neue Pfähle für den nächsten Alpsommer gemacht werden. Obwohl es streng ist und nicht immer nur lustig: «Ich bin hier aufgewachsen, kenne nichts anderes und schätze die Freiheit und die Natur sehr und ich hoffe, noch viele weitere Sommer hier auf dem Farnli Hirten zu können», sagt Katja Häusler. Auch die Familien Waeber und Zemp geniessen das Alpleben sehr und möchten es nicht aufgeben.
Von Marianne Ruch