• Der Entscheid an der Gemeindeversammlung viel unmissverständlich aus. Während nur vier Personen gegen die Glockeninitiative stimmten, wurde sie von der überwältigenden Mehrheit klar befürwortet. · Bilder: Thomas Peter

  • Sie gehören dem Initiativkomitee an: (von links) Christian Sommer, Stefan Marti, Rolf Rohrbach, Kurt Krieger, Christian Egger, Ernst Gerber (betroffener Landwirt, gegen den die Beschwerde läuft), Thomas Beutler und Andreas Baumann (Präsident).

  • Initiativkomitee-Präsident Andreas Baumann erntete mit seinem engagierten Votum an der Gemeindeversammlung immer wieder Zwischenapplaus.

15.12.2023
Oberaargau

Ein wuchtiges Ja für die Glockentradition

Die Glockeninitiative in Aarwangen hat ihre erste Hürde genommen. An der Gemeindeversammlung wurde die Initiative von den 166 anwesenden Stimmberechtigten wuchtig angenommen, nur vier Personen sprachen sich dagegen aus. Der erwartete Gegenwind blieb gänzlich aus. Der Gemeinderat hat nun den Auftrag, ein Reglement zu erarbeiten, «das ein massvolles Nebeneinander von Glocken an der Kirche aber auch Glocken, Schellen und Treicheln bei Nutztieren ermöglicht und so der ländlichen Tradition der Gemeinde Rechnung trägt». Darüber abgestimmt werden dürfte im Juni 2024. Ein Lehrstück, wie Gemeindepolitik gelebt wird.

Fokus · Rückblende: Gegen das nächtliche Glockengeläut der Kühe von Ernst Gerber war im November 2022 eine Beschwerde wegen Nachtruhestörung eingereicht worden, die alles ins Rollen gebracht hat (Wir berichteten). Die Beschwerdeführenden – zwei ins ans Weideland angrenzende Quartier zugezogene Paare – fühlten sich gestört und verlangten unter anderem, dass die Rinder im Zeitraum von 22 bis 7 Uhr keine Schellen tragen dürfen. Daraufhin wurde ein Initiativkomitee mit dem Neurologen und Bauernsohn Andreas Baumann an der Spitze aktiv, das im Mai 2023 die Unterschriftensammlung lancierte und damit eine unglaubliche Welle der Solidarität auslöste. 1099 beglaubigte Unterschriften sind innert etwas mehr als zwei Monaten zusammengetragen worden. Das Aufstehen der Aarwangener für die Tradition des Glockengeläuts hat nicht nur die Menschen im Oberaargauer Dorf bewegt, sondern national wie international für ein erstaunliches Medienecho gesorgt. So wurde in Italien, Frankreich, Kanada und auch von der BBC in Grossbritannien darüber berichtet.

Eine Schweizer Tradition bewahren

Entsprechend gross war der Aufmarsch am vergangenen Montagabend an der Gemeindeversammlung. «Heute sind mehr Stimmberechtigte hier, als im letzten Jahr, und damals ging es um die umstrittene Steuererhöhung», unterstrich Gemeindepräsi­dent Niklaus Lundsgaard-Hansen, dass das Thema die Aarwangener mobilisiert, vor allem die Unterstützer der Glockeninitiative, während die Gegner an diesem Abend in der überraschend stillen Minderheit blieben. Niemand von ihnen ergriff das Wort.
Ganz anders die Befürwortenden. Allen voran Initiativkomitee-Präsident Andreas Baumann. «Warum braucht es diese Initiative?», stellte dieser bei seinem Votum eingangs die Frage in den Versammlungsraum. Vordergründig gehe es um das Glockengeläute an Kirche, sowie den Klang von Glocken, Schellen und Treicheln an Nutztieren. «In Tat und Wahrheit geht es aber um sehr viel mehr: Es geht darum, wie wir als Schweizerinnen und Schweizer unsere gelebten Traditionen in der Zukunft bewahren und pflegen wollen. Oder wollen wir sie ins Museum verbannen? Wir vom Initiativkomitee sind überzeugt, es braucht in Aar­wan­gen und in der Schweiz eine gelebte Tradition mit Glocken an Kirchen und an Nutztieren. Glockenklänge gehören zu unserer Identität als Schweizer. Sie sind tief in unserer DNA verankert.» Das Initiativ-Komitee wolle, dass ein Reglement erarbeitet werde, das der Willensäusserung der Bevölkerung Rechnung trage, «dass Aarwangen eine gelebte Tradition hat und auch in Zukunft haben wird. Wir wollen eine langfristige Regelung des Glockengeläutes in der Gemeinde, um auch nachfolgende, sich wiederholende Diskussionen zu vermeiden», führt Andreas Baumann aus. «Das Initiativkomitee weiss sehr wohl, dass wir hier gebunden sind an übergeordnetes Recht. Möglicherweise wird es mittelfristig sogar nötig sein, auf kantonaler oder eidgenössischer Ebene die Thematik anzugehen, aber das ist nicht Gegenstand der Diskussion in Aar­wangen.» Damit deutete Andreas Baumann unausgesprochen an, dass das Komitee auch in über die Gemeinde hinausgehende Dimensionen denkt.

Kritik an Gemeinderat
Eine leise Kritik merkte Andreas Baumann gegenüber dem Gemeinderat Aarwangen an, der darauf verzichtet habe, den Stimmberechtigten in der Botschaft zum Traktandum eine Empfehlung abzugeben mit der Begründung, dass «die Frage des Glockengeläutes in erster Linie eine Frage der persönlichen Wertvorstellungen und keine politische Frage ist.» Eine Einschätzung, die er nicht nachvollziehen könne: «Wenn mehr als ein Drittel der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sich für ein Anliegen einsetzen und eine Gemeindeinitiative einreichen, wie es Aarwangen noch nie gesehen hat, dann hat dies eine politische Dimension. Eine klare Regelung zu haben auf Gemeindeebene, wie man mit dieser Frage umgehen soll, sollte eigentlich im Interesse der Exekutive liegen.»

Laufendes Verfahren soll sistiert werden
Andreas Baumann gab in seinem Votum zudem seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Gemeindeversammlung mit ihrer Zustimmung zur Initiative dem Gemeinderat empfiehlt, im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten das laufende Verfahren gegen Ernst Gerber so lange zu sistieren, bis das Reglement erarbeitet sei, und die «Lärm»-Beschwerde entlang des neuen Reglements zu beurteilen. «So hoffen wir, dass die zuständige Behörde mit der Verfügung, die Glocken abzuhängen, zuwartet, bis das Reglement erarbeitet ist. Wir erachten es als sinnvoll, wenn der Willensäusserung von 1099 Aarwangerinnen und Aarwanger entsprochen wird.»

Rinder und Menschen bimmeln anders
Aktuell müsse die Baubehörde von Aarwangen aufgrund eines Lärmberichtes des Kantons Bern ihren Entscheid zur Beschwerde fällen. Ein Lärmbericht, der auf am 1. März 2023 vorgenommene Lärmimmissionen-Messungen basiert, die nicht wirklich unter realitätsnahen Bedingungen entstanden seien, bemängelte Andreas Baumann und zitierte aus dem Fachbericht: «Hierbei wurden die zur Verfügung gestellten Schellen durch einen Mitarbeiter unserer Fachstelle händisch, möglichst realitätsnah und in verschiedenen Intensitäten gebimmelt (angeregt).» Ein Zitat, das bei der Versammlung ein Gelächter auslöste. «Die beiden Fachstellenmitarbeiter der Kantonspolizei Bern kamen (daraufhin) zum Schluss, dass die Verwendung von Schellen während der Nachtzeit von 22 bis 7 Uhr an besagtem Orten nicht gestattet sei», erklärte Baumann und bilanzierte als Bauernsohn: «Wenn mir nun jemand von einer Behörde weis machen möchte, dass das Bimmeln des Menschen gleich klingt, wie das Bimmeln eines Hausrindes, dann habe ich doch so meine Zweifel. Die Messung erfolgte zudem am 1. März also ausserhalb der Vegetationsperiode. Zu diesem Zeitpunkt haben die Viecher nichts zu fressen, sie wären gar nicht auf der Weide und der Klang in den Wintermonaten ohne Blätter an den Bäumen und ohne gewachsenes Gras ist ganz anders als im Sommer, wenn die Tiere draussen sind.»

Beschwerde gegen Lärmmessung abgewiesen
Gegen diese Lärmmessung habe der Landwirt Ernst Gerber eine Beschwerde beim Kanton eingereicht. «Diese Einsprache wurde abgelehnt, da sie (die Lärmmessung) – ich zitiere – keine verbindlichen Anordnungen erlässt. Erst wenn die Gemeinde eine Verfügung erlässt, könnte eine Einsprache erfolgen. Gegen eine solche Messung kann man also nicht einmal Einsprache erheben. Sie wird darauf basierend abgelehnt, da es keinen rechtsverbindlichen Charakter hätte und man erst gegenüber der Gemeinde Einsprache machen könnte. Dies die Rechtssituation für die Landwirte hier in diesem Land», führte Andreas Baumann an. Während einer der beiden Beschwerdeführenden seine Beschwerde bereits Ende Mai von sich aus zurückgezogen hat, plant der zweite, demnächst aus Aarwangen wegzuziehen. Ob dann die Beschwerde stehen bleibt, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Deshalb erhoffe er sich, dass die Gemeindeversammlung – ohne rechtlich bindenden Charakter – das Anliegen unterstütze, dass die Lärmmessung wie­derholt würde, nachdem das Reglement erarbeitet worden ist und man dann wirklich wisse, was die Bevölkerung im Dorf wolle. «In diesem Sinne ist es das Ziel, dass der traditionsbewusste Landwirt weiterhin seinen «Gusti» auf der eigenen Weide die Schellen umhängen kann, wie es in der Tradition sein Urgrossvater, sein Grossvater und sein Vater getan haben. Die neu hinzugezogenen Menschen sind aufgerufen, diese Tradition zu akzeptieren und mitzutragen.» Mit dem spontanen Schlussapplaus liess die Versammlung durchblicken, dass sie die Anliegen Initiativ­komi­tees unterstützt.

Unterstützung von Kirchenseite
Zuspruch erhielt Andreas Baumann sogleich aus der Versammlung von Anita Kläntschi, Co-Präsidentin des Kirchgemeinderates. «Wir unterstützen die Initiative, und sind auch bereit, beim Ausarbeiten des Reglements mitzuwirken», machte sie die Haltung des Kirchgemeinderates klar. Die Kirche spüre beim Geläut weniger Gegenwind, im Gegenteil, es werde eher reklamiert, wenn die Glocken, einmal nicht läuten als umgekehrt.
Auch zwei weitere Votanten sprachen sich für die Initiative aus, während eher überraschend niemand von der Gegnerschaft das Wort ergriff und sich lediglich bei der nachfolgenden Abstimmung vier Personen bemerkbar machten, als sie gegen die Initiative stimmten. Andreas Baumann zeigte sich nach der Versammlung ebenso erstaunt. «Ich habe deutlich mehr Gegenwind erwartet. Ich bin sehr dankbar, dass die Gemeindeversammlung das Anliegen des Initiativkomitees mit überwältigender Mehrheit unterstützt.»
Gemäss Ge­mein­depräsident Niklaus Lundsgaard-Hansen dürfte das Reglement an der Gemeindeversammlung 2024 zur Abstimmung vorgelegt werden können. Er betonte in die­sem Zusammenhang, dass auch nach der Annahme dieses Reglements weiterhin Lärmbeschwerden gegen das Glockengeläute eingereicht werden könnten.

Von Thomas Peter