«Es war der richtige Entscheid, hierher zu ziehen»
Im Januar 2009, vor fast genau zehn Jahren, hat die Stiftung WBM Madiswil unmittelbar neben der Werkstätte ihr Wohnheim für 25 Bewohnerinnen und Bewohner eröffnet. Ihnen wird hier selbständiges Wohnen ermöglicht. Gleichzeitig erhalten sie in allen Bereichen Unterstützung, wenn sie solche benötigen. Im Gespräch mit dem «Unter-Emmentaler» erzählt die Bewohnerin Irene Glanzmann aus ihrem Alltag.
Madiswil · Irene Glanzmann lehnt sich in ihrem Rollstuhl zurück. Sie leidet an einer Cerebralen Lähmung, arbeitet in einem 50 %-Pensum in der WBM Madiswil. Seit 30 Jahren schon. «50 % sind genug für meinen Rücken; mehr geht nicht», sagt sie gegenüber dem «Unter-Emmentaler». Sie wohnt seit dem Frühjahr 2010 im Wohnheim der Stiftung WBM Madiswil. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner kannte sie beim Einzug ins Wohnheim von ihrem Arbeitsalltag her. Trotzdem: Fort von den Eltern, am neuen Ort sich daheim fühlen, «das war am Anfang schwierig», blickt sie zurück. Es sei ein Unterschied, ob man mit Menschen nur zusammenarbeite oder ob man sie auch abends um sich habe. «Aber mit der Zeit haben wir uns gefunden. Die anfänglichen Schwierigkeiten haben sich ergeben. Es war der richtige Entscheid, hierher zu ziehen.»
Diesen Entscheid hatte sie sich damals nicht leicht gemacht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie in Aarwangen bei den Eltern gewohnt. «Ich sprach lange mit meinem Bruder über den Wechsel ins Wohnheim. Er sagte: ‹Jetzt kannst du wählen, wohin du möchtest. Wenn es den Eltern jedoch plötzlich schlechter gehen sollte, müsstest du dorthin ziehen, wo es einen freien Platz hat.› So wählte ich das Wohnheim der WBM, und das ist gut so.»
Betreuung und Begleitung erleichterte den Anfang
Die Betreuung und Begleitung durch den Leiter des Wohnheims, Marco Zoli, und das ganze Betreuungsteam, habe ihr den Anfang stark erleichtert. «Sie sind immer für uns da, wenn wir ein Problem haben oder wenn uns etwas beschäftigt. Zudem findet Marco Zoli für alles eine Lösung, und er hilft, wo er kann.» Inzwischen geniesst sie es, abends mit ihren Mitbewohnerinnen und -bewohnern in der Wohngruppe zu essen, manchmal zu spielen, zu basteln oder fernzusehen. Eben habe man gemeinsam einen Adventskalender und den Jahreskalender 2019 gebastelt und gestaltet.
Dabei schätze sie die Möglichkeit sehr, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können, wenn sie dies wünsche. «Manchmal ist man lieber alleine und ist froh, die Türe schliessen zu können und Ruhe zu haben.» Jetzt komme die Jahreszeit, die ihr nicht so gut tue. Das Grau draussen drücke ein bisschen auf das Gemüt.
«Ich bin ein Sommer-Mensch.» In den wärmeren Jahreszeiten könne sie mit ihrem Rollstuhl nach draussen, könne im «Felber» einen Kaffee trinken, treffe andere Menschen. Bei Regen, Schnee oder Glätte sei dies mit dem Elektrorollstuhl nicht möglich. So oder so: Irene Glanzmann hat sich daran gewöhnt, immer das Natel auf sich zu tragen. Denn wenn der Rollstuhl plötzlich defekt ist, ist sie hilflos. «Dann kann ich die Betreuung anrufen, und sie kommen mich holen. Das geschah beispielsweise einmal, als ich einen ‹Platten› hatte. Denn wegen meinem Rücken habe ich Luftpneus, die federn besser als die mit Vollgummi.» Seit eineinhalb Jahren ist das Wohnheim auch tagsüber betreut. Das heisst, seit zwei Bewohner pensioniert sind und nicht mehr oder nur noch wenig arbeiten. Für diese Tagesbetreuung ist auch Irene Glanzmann dankbar. «Dann kann man mit jemandem sprechen oder gemeinsam einen Tee oder einen Kaffee trinken. Früher schienen die Nachmittage manchmal lange, wenn niemand sonst im Haus war.» Jeden Freitagmittag lässt sie die Stiftung WBM zusammen mit dem Wohnheim hinter sich. Die Wochenenden verbringt sie bei ihrer Mutter, die inzwischen alleine lebt, nachdem der Vater vor drei Jahren starb.
Dankbar für die gemeinsame Küche
So sehr sie das Wohnheim, den Komfort, die Nähe zum Arbeitsplatz und vor allem eben die Wohngemeinschaft und die Betreuung schätzt – Irene Glanzmann bringt auch Kritik an. Etwa die schwere Türe ins Treppenhaus hinaus, die sie selbst nicht öffnen konnte bis Marco Zoli den Türstopper entfernte. Die schmale, steile Rampe zur Eingangstüre des Wohnheims; die Tatsache, dass sie in der Küche der Wohngruppe nicht mit dem Rollstuhl unter den Kochherd fahren kann. «Deshalb kann ich immer nur rüsten helfen.» Denn einmal pro Woche werde in der Wohngruppe gemeinsam das Mittagessen gekocht. Was ihr sehr gefällt. Dann dürfe sie um 10.45 Uhr mit arbeiten aufhören, um beim Kochen mitzuhelfen. Das mache sie sehr gern. «Wir haben grosse Freude, dass man uns eine Küche eingebaut hat. Diese haben wir nämlich erst seit etwa eineinhalb Jahren, vorher war dort eine Aufenthaltsecke. Unsere schöne Küche schätzen wir in der Wohngruppe wirklich sehr.»
Immer wieder aber betont Irene Glanzmann im Gespräch, wie wichtig ihr die tägliche Arbeit in der WBM sei. «Es ist das schönste, selbständig und exakt arbeiten zu dürfen.» Dass sie dies zuverlässig und mit sehr viel Herzblut tut, braucht nicht speziell betont zu werden.
25 Bewohnerinnen und Bewohner – und 25 Lösungen
Das Wohnheim der Stiftung WBM Madiswil wurde im Januar 2009 eröffnet. Nach und nach zogen hier 25 Menschen ein, fanden sich in vier Wohngemeinschaften zusammen. Wechsel gab es in dieser Zeit kaum. Die Bewohnerinnen und Bewohner dürfen weitgehend selbständig leben, gehen zur Arbeit, gestalten ihre Freizeit nach ihren Bedürfnissen. Sie teilen es der Leitung mit, wenn sie das Wohnheim verlassen und in welche Richtung sie gehen oder fahren. In allen Bereichen, sei dies bei der Tagesstrukturierung, beim Anziehen, in administrativen Belangen, bei Arztbesuchen usw. erhalten sie Hilfe, wenn sie solche möchten oder benötigen.
Das Wohnheim ist rund um die Uhr betreut. 16 Mitarbeitende sind für ihr Wohl besorgt, unter ihnen die Heimleitung, die Gruppenleitenden und pro Gruppe eine Lernende oder ein Lernender Fachfrau/Fachmann Betreuung (FaBe). «Seit unser Haus vollbesetzt ist, entwickelte sich in den Gruppen ein Eigenleben. Dies natürlich innerhalb des gegebenen Rahmens. Das ist sehr erfreulich», sagt der Leiter des Wohnheims, Marco Zoli, gegenüber dem «UE». «Die Betreuenden machen soviel wie nötig und sowenig als möglich. Es ist uns sehr wichtig, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner ihre Eigenständigkeit leben dürfen, dass wir ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten fördern können. Wir haben 25 Bewohnerinnen und Bewohner – und 25 Lösungen. Jedes funktioniert anders, und wir legen grossen Wert darauf, dass sie sich selbst sein können und ihr Leben und den Alltag so gestalten dürfen, wie sie möchten.»
Unter dem Dach des Wohnheims der Stiftung WBM leben Menschen zwischen 22 und 73 Jahren. Ein Bewohner arbeitet auswärts, die andern alle in der WBM. Wenn sie pensioniert sind, dürfen sie weiterhin im Wohnheim bleiben, mindestens solange, wie es möglich ist, ihnen die Unterstützung zu gewähren, die sie nötig haben. Bisher sei noch nie ein Übertritt in ein Alters- und Pflegeheim notwendig geworden, so Marco Zoli.
Von Liselotte Jost-Zürcher