Fesselnde und beflügelnde Einmannshow
Sänger, Schauspieler und Musical-Darsteller Thomas Borchert hielt das faszinierte Publikum in der Alten Mühle mit «Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten» singend, erzählend und auf dem Flügel spielend von A bis Z in Atem.
Kolossal beeindruckend, was der 50-jährige Thomas Borchert dem 112-köpfigen Publikum in der Alten Mühle in Langenthal mit «Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten» in 90 Nonstop-Minuten bot. Seinen ersten Klavierunterricht erhielt der seit 2005 mit Geigerin Rebecca Thümer verheiratete Borchert im Alter von acht Jahren. In den 1990er-Jahren trat er in Hamburg («Cats»), in Wien («Elisabeth», «Mozart!») und anderswo sowie auch als Solist im Orchester von Bert Kaempfert auf. Seither erfreut er das Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Noch bis Ende Mai 2017 steht Borchert in St. Gallen in «Tanz der Vampire» als Graf von Krolock auf der Bühne. Dank guter Beziehungen zu den Hamburger Kammerspielen, so Langenthals Theaterleiter Reto Lang, habe Borchert mit «Novecento» für ein Gastspiel nach Langenthal gelockt werden können.
An Bord der «Virginian»
Autor ist der inzwischen 59-jährige italienische Schriftsteller Alessandro Baricco, dessen «Novecento» – ein Einmannstück – 1994 als Buch erschien und 1998 verfilmt wurde. Als Regisseur für «Novecento» hatte sich Thomas Borchert Martin Maria Blau an Bord geholt. Apropos «an Bord»: Das Bühnenbild ist so gewählt, dass sich das Publikum auf dem Schiff «Virginian» wähnt, auf dem sich die Geschichte abspielt. Hinter dem Schiffsgeländer ist das Blau des Meeres und des Himmels zu sehen, auf dem Schiff der Flügel, dem Thomas Borchert virtuos mal kräftige, mal leise Töne entlockt.
In der Rolle des Trompeters Tim Tooney erzählt Thomas Borchert mal singend, mal erzählend – stehend oder am Boden sitzend – und mal subtil in die Tasten des Flügels greifend die Geschichte der fiktiven Hauptperson Danny Boodman T.D. Lemon Novecento. Borchert weiht das Publikum ein, was am 1. Januar 1900 auf dem Passagierschiff «Virginian» geschah. Der schwarze Matrose Danny Boodman entdeckt auf dem Flügel des Ballsaals in einer Zitronenschachtel ein Findelkind, das offenbar arme Auswanderer hinterlassen haben. Boodman nennt das Kind, inspiriert von der Beschriftung auf der Zitronen-Pappschachtel, T.D. Lemon und wegen des Zeitpunktes des Fundes Novecento. Er nimmt sich des kleinen Jungen an. Das Kind entwickelt sich zum Klaviertalent, das die Reichen der 1. Klasse ebenso verzaubert, wie die Auswanderer im Unterdeck.
Was niemand ahnt: Novecento, inzwischen 27-jährig, der offiziell gar nie geboren worden war, wird das Passagierschiff «Virginian» zeitlebens nie verlassen. Er weigert sich, zumal das Schiff längst zum eigenen Zuhause geworden ist. Aufgewühlt schildert Thomas Borchert in der Rolle des Trompeters Tim Tooney die Geschichte des aufgewühlten Meeres, wo sich des Sturms wegen kaum mehr jemand auf den Beinen halten konnte: «Novecento begann zu spielen. Das Klavier glitt über das Parkett des Ballsaals – und er mit dem Klavier hin und her. Bei der Glastüre hielt das Klavier an, glitt zurück. Er lenkte das Klavier. Wir tanzten mit dem Ozean.» Kein Verständnis dafür hatte der Schiffskapitän, der den Trompeter und den Pianisten kurzerhand in den Maschinenraum beorderte. «In jener Nacht wurden Novecento und ich Freunde fürs Leben», so Borchert alias Tooney.
«Duell auf dem Klavier»
Der amerikanische Pianist Jelly Roll Morton, selbsternannter «Erfinder des Jazz», hat erfahren, dass eine Legende namens Novecento als Ozeanpianist die Passagiere zu Beifallsstürmen hinreisst und schier vier Hände zu haben scheint. Jelly Roll Morton kommt an Bord, fordert Novecento zu einer Art «Duell auf dem Klavier» heraus, unterliegt aber prompt. «Es war eine Magie. Die Leute schrien und klatschten», schildert Thomas Borchert alias Novecento-Freund Tim Tooney die Stimmung von damals – vom Sommer 1931 auf der «Virginian». Nun naht der Zweite Weltkrieg. Novecentos bester Freund, Trompeter Tim Tooney, verlässt das Schiff und verliert Novecento genauso wie das Passagierschiff «Virginian», aus dem zwischenzeitlich ein «schwimmendes Lazarett» wird, aus den Augen. Als der Krieg zu Ende ist, erfährt Tooney, dass Novecento nie von Bord der «Virginian» gegangen sei, die nun in Plymouth gesprengt und dann verschrottet werden soll. Tooney fährt mit dem Zug nach Plymouth und geht an Bord der «Virginien». Im Maschinenraum findet er den alten Freund völlig zurückgezogen. «Im Halbdunkeln sah er aus wie ein Prinz», schildert Erzähler Thomas Borchert alias Tim Tooney das Wiedersehen mit Novecento, der auf dem Schiff bleiben will. Hier sei seine vertraute, enge Umgebung. Das Land wäre ihm zu gross.
«Dynamit überall», schildert Tooney die Situation der «Virginien», die in die Luft fliegen soll, und appelliert letztmals an Novecento, das Schiff zu verlassen. Dieser will mit der «Virginien» untergehen – selbst dann, wenn er beim Anklopfen an die Himmelstür Schwierigkeiten bekommen sollte, weil er nie Land betreten hatte und somit gar nie offiziell existierte. Tooney geht, Novecento bleibt. Das Ende ist ergreifend: Borchert spielt auf dem Flügel sanfte Töne. Er flüstert in der Rolle des Novecento-Freundes Tooney: «Es ist vorbei. Diesmal ist es wirklich vorbei.»
Von Hans Mathys