• Franziska Haltiner in Ramsei bei ihrem freiwilligen Einsatz: Haareschneiden für Benachteiligte. · Bilder: zvg

  • Das obligate Haar-Herz wird jeweils nach einem «KAR-LI» Einsatz aus den abgeschnittenen Haaren gebildet.

08.09.2022
Oberaargau

Franziska Haltiner schneidet benachteiligten Menschen kostenlos die Haare

Sie war schon seit einiger Zeit auf der Suche nach einem Hobby oder einer freiwilligen Arbeit. Im November letzten Jahres schloss sie sich der Organisation «KAR-LI» an. Die Oeschenbacherin Franziska Haltiner schneidet seitdem benachteiligten Menschen unentgeltlich Haare und Bärte. Für die gelernte Frisörin ist es ein Hobby, das Spass macht. Und das Beste dabei: «Ich kann etwas Gutes tun», sagt sie.

Öschenbach · «Ich wusste schon im Kindergarten, dass ich Frisörin werden will», lacht die fröhliche und aufgestellte Frau. Niemand habe ihr damals geglaubt und die Begeisterung der Eltern hielt sich in Grenzen. «Gelernt habe ich es trotzdem», schmunzelt sie. Es sei ihr Traumberuf, auch heute noch, nach fast 40 Jahren Haareschneiden.

Keine Berührungsängste
«Eine Freude bereiten, etwas machen, was ich kann und nicht kompliziert ist», erklärt Franziska Haltiner auf die Frage, warum sie benachteiligten Menschen an «KAR-LI»-Events gratis die Haare schneidet. Ist das nicht emotional herausfordernd, zum Beispiel mitten in Bern Drogenabhängigen die Haare zu schneiden? «Oh, das ist absolut kein Problem – es macht Spass, ich sehe viele lachende Gesichter und wir haben jeweils lustige Stunden und die Meisten sind sehr dankbar», erzählt die offene Frisörin. Natürlich sehe man Schicksale und Leid, was einem sehr nahe gehe. «Aber mit dem Haareschneiden kann ich etwas Gutes für die Menschen tun, ihnen eine Freude machen und das gibt mir ein gutes Gefühl.» Berührungsängste habe sie keine. Das sei in dem Moment ihr «Job» und sie «mache einfach». «Bei Kunden im Salon höre ich auch traurige Geschichten. Da gewöhnt man sich mit der Zeit daran», erklärt sie. Auch in Ramsei in der HSR-Arena war sie kürzlich an einem «KAR-LI»-Event mit dabei. «Wir haben draussen an der Sonne Haare geschnitten, es war ein super Nachmittag mit tollen und dankbaren Menschen», schwärmt sie. Nach jedem Einsatz formen die Frisörinnen und Frisöre mit den abgeschnittenen Haaren ein Herz und machen ein Bild davon. «Das ist Tradition geworden und gehört dazu. Es ist wie ein Abschluss nach einem guten Tag», sagt sie.

Armutsbetroffen
Die Armutsbetroffenen können sich über das Sozialamt oder die Winterhilfe für die Haarschneide-Events anmelden. Die Frisörinnen und Frisöre werden anschliessend je nach angemeldeten Personen aufgeboten. Am Event, jeweils an einem Sonntag, gibt es eine Eingangskontrolle, dann die Haarwäsche und dann sind Franziska Haltiner und ihre Kolleginnen und Kollegen an der Reihe mit der Schere. «Wir schneiden die Haare und föhnen sie, anderes Material haben wir nicht dabei – da würde auch die Zeit gar nicht reichen», erklärt sie. Die Kunden dürfen anschliessend Hygieneartikel, Kleider und Schuhe, die alle gespendet wurden, mit nach Hause nehmen. «Es ist noch speziell, die meisten Drogenabhängigen nehmen sehr wenig bis gar nichts mit, sie sind sehr bescheiden», erzählt die 54-Jährige. Im Gegenteil, sie habe auch schon Geschenke von ihnen erhalten.
Rund drei Mal pro Jahr finden die Events an verschiedenen Orten statt. Viele Gäste werden somit zu Stammkunden. «Das ist schön, ich freue mich jeweils, die Menschen wieder zu sehen», sagt sie strahlend. Doch nicht nur Drogenabhängige sind von der Armut betroffen, auch ganz normale Bürger. «Es gibt Menschen, die sparen ein Jahr lang, um zum Frisör gehen zu können – nur wissen wir das nicht. Die Betroffenen sagen mir das nicht, wenn sie zu mir in den Salon kommen», sagt Franziska Haltiner. Ja, das gebe einem schon zu denken. Umso mehr will sie ihre gemeinnützige Arbeit weiterverfolgen und weiterhin ein- bis zweimal pro Monat Benachteiligten die Haare schneiden. «Wir können alle froh und dankbar sein, wenn wir ein gutes Leben haben, es ist nicht selbstverständlich», sagt sie mit Nachdruck. Sie selbst sei zwischen 17 und 19 Jahren in der Punk-Szene gewesen und habe viele Menschen abstürzen sehen.

KAR-LI: Karikative Liebe
Der «KAR-LI»-Verein besteht seit letztem September und steht für Karitative Liebe. Es ist eine gemeinnützige Organisation, der die Wertschätzung obdachloser und armutsbetroffener Menschen am Herzen liegt, da diese nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sie helfen ehrenamtlich und bei ihnen wird Solidarität, Herzlichkeit und Freundschaft grossgeschrieben. Denn Not herrsche nicht nur weit weg von uns, oftmals liege sie direkt vor unserer Haustüre.
Die abgeschnittenen Haaren werden nicht einfach entsorgt, sondern wiederverwertet. Die Firma RECUPHAIR stellt daraus saugstarke Ölfiltermatte mit der Bezeichnung ABSORBHAIR her, die unter anderem von Feuerwehren und Autowerkstätten genutzt werden. Ein Kilogramm Haar kann bis zu acht Liter Öl aufsaugen. Ganz lange Haare spendet die Organisation für krebskranke Kinder, um damit Perücken herstellen zu lassen. Momentan sind 13 schneidende «KAR-LIs» und sechs Staffmitglieder der Organisation angeschlossen und sie wirken in der Region Bern, Emmental, Basel, Luzern, Zürich, Olten, Langenthal und Solothurn. «Das Ziel wäre, in der ganzen Schweiz tätig zu sein», sagt Karin Flückiger-Stern, die Gründerin der Organisation. «Aber dafür fehlen uns noch einige Frisörinnen und Frisöre. Wir wären froh, wenn sich uns noch einige anschliessen würden.» «Jetzt sind wir ‹nur› Frauen, die Haare schneiden, es wäre cool, wenn wir auch noch ein paar Herren gewinnen könnten», lacht Franziska Haltiner.

Von Marianne Ruch