• Die querschnittgelähmte Therese Kämpfer und ihre Tochter Alexandra Kämpfer haben Anfang 2021 den Verein «myPeer» gegründet.

  • Claudia Giesser

  • Priska Lanz · Bilder: Irmgard Bayard

10.01.2023
Oberaargau

«Gespräche auf Augenhöhe sind wichtig»

Im Februar 2022 hat der «Unter-Emmentaler» über den Verein «myPeer» und seine anstehenden Kurse berichtet. In diesen Kursen werden von einer Krankheit oder einem Unfall betroffene Frauen und Männer ausgebildet, um andere Menschen in der gleichen oder in einer ähnlichen Situation zu unterstützen. Nun haben die ersten sogenannten Peers den neuntägigen Kurs absolviert und andere damit begonnen. Die Oberaargauerinnen Priska Lanz und Claudia Giesser erzählen davon.

Wie fühlt sich jemand nach der Rückkehr aus der Psychiatrischen Klinik? Welche Hindernisse kommen auf Rollstuhlfahrer zu, die man mit einem Trick umgehen kann, wenn man ihn kennt? Was fühlt eine Frau mit Brustkrebs, wenn sie für die Familie weniger Kraft hat als früher und als Mutter an sich zweifelt? Das sind Fragen, welche nur Menschen beantworten können, die in der gleichen Situation waren. Genau dort setzt die Ausbildung zum Peer, also einem Experten oder einer Expertin aus Erfahrung, an.
«In der Klinik hatten wir Personen, die uns unterstützten», erzählt Priska Lanz, eine der ersten Kursteilnehmerinnen. Die 39-Jährige war vor rund sechs Jahren aufgrund ihres Burn-outs und ihrer Depression sieben Wochen lang stationär in Behandlung und wurde danach von ihrem Therapeuten und der psychiatrischen Spitex betreut. «Es gibt zwar Anschlussangebote, jedoch nicht solche wie die ‹Peers›, die aus eigener Erfahrung wissen, wie man sich fühlt», sagt die verheiratete Mutter eines Stiefsohnes.

Das Gesunde hervorheben
In einer SRF-Doku-Sendung erfuhr sie zum ersten Mal von der Ausbildung eines «Peers». Der englische Begriff umschreibt eine gleichwertige oder ebenbürtige Person, also jemand, der einem auf Augenhöhe begegnet.
In einem neuntägigen Kurs lernen In-teressierte unter anderem Fragetechniken, Gesprächsführung sowie eine ressourcenorientierte und salutogenetische Denkweise. Das heisst, sie lernen ihre gesunden Anteile zu erkennen und damit umzugehen. Sie bauen damit auf ihrem Expertenwissen auf. Der Kurs wird vom von Therese und Alexandra Kämpfer gegründeten Verein «myPeer» in Zusammenarbeit mit dem Coachingcenter Olten angeboten. Die Kursteilnehmenden sind in verschiedenster Weise Betroffene. Wichtig ist, gemäss Alexandra Kämpfer, dass die Stabilität mit der eigenen Lebensgeschichte vorhanden ist. «In meinem Kurs war ich die Einzige mit einer Depression, die anderen waren alle körperlich eingeschränkt», so Priska Lanz. «Nach den ersten beiden Theorietagen habe sie sich schon gefragt, ob sie am richtigen Ort sei. «Unsere Referentinnen, vor allem Alexandra Kämpfer, haben mir jedoch die Unsicherheit und meine Zweifel genommen und ich habe verstanden, dass wir trotz der Unterschiede im selben Boot sitzen.» Sie habe von den unterschiedlichen Perspektiven profitiert, findet sie.

Beruflich anwenden
Der Kurs schliesst mit einem Zertifikat ab. Die Absolventinnen und Absolventen verpflichten sich damit, eine jährlich wiederkehrende Weiterbildung und die angebotenen Supervisionen zu besuchen. Die Kursteilnehmenden können sich in einer ab Februar unter www.mypeer.ch aufgeschalteten Plattform registrieren und ihr Angebot bekanntmachen. «Die ‹Peers› sollen nicht als Freiwillige arbeiten, sondern ihre Erfahrungen als berufliche Tätigkeit einsetzen können», betonte Alexandra Kämpfer bereits im Februar. Priska Lanz hat denn auch bereits einen Vortrag in einer Schule gehalten, in dem sie auf die Anzeichen von Burn-outs aufmerksam gemacht und von ihren Erfahrungen erzählt hat. «Der Fokus liegt bei mir ganz klar in der Aufklärung und Prävention», betont sie. Und auch, dass sie keinesfalls Therapeuten ersetzen wolle und könne. «Aber es braucht beides.»

Unterstützung auf dem Weg in die Normalität
Aufgrund ihrer Situation weniger auf Prävention als auf Gespräche setzt Claudia Giesser. Die 52-jährige, ausgebildete Aromatherapeutin stand nach ihrer Brustkrebserkrankung allein auf dem Weg zurück in den normalen Alltag. «Ich hatte in der Zeitung von ‹myPeer› gelesen und bei den Soroptimistinnen einen Vortrag der beiden Käm-pfer-Frauen darüber gehört», nennt sie ihre ersten Kontakte. Im Spital und während der Krebstherapie sei sie zwar von einer «Breast Care Nurse», also einer spezifisch ausgebildeten Ansprechperson betreut worden. «Aber danach nicht mehr. Mir fehlten praktische Tipps und jemand, mit dem ich über meine Ängste in Bezug auf die Familie hätte sprechen können.» Gerade als Mutter – ihre Kinder waren während der Krankheit noch klein – habe man immer Zweifel, weil man nicht voll für die Kleinen da sein könne. «Nach der Genesung wurde ich mehrfach gebeten, mit neu erkrankten Frauen über meine Erfahrungen zu berichten.» Nun will sie dies im «myPeer»-Kurs professionell lernen.
Claudia Giesser hat im November mit dem Kurs begonnen. «Bisher war es sehr interessant. Es geht ja auch um Selbstreflektion, darum, seine eigenen Stärken und Ressourcen kennenzulernen.» Sie hat vor, ihr Angebot nach der Ausbildung nebst der Plattform unter «myPeer» auch bei Onkologen und in Spitälern anzubieten. Die Familienfrau schwärmt von ihrer Gruppe, den unterschiedlichen Geschichten und dem familiären Zusammengehörigkeitsgefühl sowie der Kompetenz der beiden Kämpfer-Frauen, welche von Priska Lanz gar als «Leuchttürme» bezeichnet werden.

Humor und Teamgeist spürbar
Gemäss Alexandra Kämpfer haben nun 26 Personen die ersten beiden Kurse absolviert. «Die vielen positiven Rückmeldungen freuen mich», sagt sie rückblickend. Unter anderem werde der grosse Wissens- und Ressourcenschatz der verschiedenen Leute in der Gruppe und die Vernetzung geschätzt. «Aber auch, dass viel Humor und Teamgeist zu spüren war», so die 37-Jährige. «Natürlich gibt es da und dort noch Verbesserungspotential», gibt sie zu. So hätten sie festgestellt, dass zu wenig bekannt sei, was der Verein «myPeer» neben den Kursen sonst noch anbiete. Optimierungen konnten teilweise im dritten Kurs bereits einfliessen. So sind etwa regelmässige Treffen in Übungsgruppen vorgesehen. Von den dort eingeschriebenen 15 Teilnehmenden haben zwei bereits Coachingerfahrung und können deshalb das verkürzte Programm durchlaufen, wie dies von Anfang an geplant war.

Gemischte Gruppen – ein Ziel
«Die Gruppen sind aktuell sehr gemischt», so Alexandra Kämpfer. Hier habe sich eine Weiterentwicklung herauskristallisiert. «Infolge des grossen Bedürfnisses konzipieren wir neu einen Kurs nur für Menschen mit psychischen Krankheitserfahrungen.» Auch regional ist eine breite Durchmischung festzustellen, stammen doch lediglich Priska Lanz und Claudia Giesser aus dem Oberaargau, alle anderen Kursteilnehmenden aus der ganzen Deutschschweiz. Ebenso seien die Voraussetzungen unterschiedlich. Die Bandbreite der teilnehmenden Menschen ist zwar breit, aber das Ziel bei allen gleich: Sie wollen ihre Erfahrung an andere als Unterstützung weitergeben.

Von Irmgard Bayard