• Nach 46 Jahren Praxistätigkeit geht Beat Geering (links) in den Ruhestand. Sein Nachfolger Francesco Pilato freut sich, ab nächstem Jahr die Praxis weiterführen zu dürfen.

  • Beat Geering präsentiert sein erstes Mobiltelefon, das er in den 80er-Jahren auf dem Schwarzmarkt erstanden hatte. · Bilder: Marion Heiniger

  • Der junge Beat Geering im September 1977, als er seine Hausarztpraxis eröffnete. · Bild: zvg

16.11.2023
Emmental

«Hausbesuche gehörten früher fast zur Tagesordnung»

46 Jahre lang hat der Hausarzt Beat Geering in Wasen praktiziert. Ab nächstem Jahr übergibt er seine Praxis an seinen Nachfolger Francesco Pilato. Für den erfahrenen Arzt und ge­bür­tigen Italiener geht mit der eigenen Landpraxis ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung.

Wasen · Nicht selten musste Beat Geering früher im Winter zwei Stunden zu Fuss durch den Schnee stapfen, um zu seinen Patientinnen und Patienten zu gelangen. Hausbesuche, insbesondere bei Notfällen, gehörten zu jener Zeit fast zur Tagesordnung. Denn noch lange nicht alle hatten damals ein Auto. Im Winter kam man teilweise nur mit den Skiern zu den abgelegenen Häusern. Noch heute macht der engagierte Hausarzt Hausbesuche, Notfälle sind es aber mittlerweile kaum mehr. Seit 46 Jahren praktiziert Beat Geering an der Lempigenstrasse in Wasen. Nun möchte der 77-Jährige in den wohlverdienten Ruhestand treten. «Ich hatte vor elf Jahren einen Schlaganfall und bin seitdem nicht mehr ganz so fit wie früher, deshalb ist es jetzt an der Zeit, aufzuhören», gesteht er ein.

Von Basel nach Sumiswald
Aufgewachsen ist Beat Geering in Riehen (BS). Sein Staatsexamen machte er im Jahr 1972. Bevor er durch einen befreundeten Arzt ins Spital Sumiswald kam, war er in der Augenklinik des Universitätsspitals Basel tätig. Davor arbeitete er als Unterassistent im Spital in Liestal. Dort lernte er seine Frau Marie Thérèse, die als Hebamme arbeitete, und Arzt Wenzel kennen, der später eine Anstellung im Spital Sumiswald erhielt und Beat Geering bat, für ein Jahr mit ihm zu kommen. Aus diesem einen Jahr wurden vier Jahre. «Die Zeit im Spital Sumiswald hat mich sehr geprägt, wir waren wie eine grosse Familie. Noch heute treffen wir uns alle zwei oder drei Jahre zu einem gemeinsamen Mittagessen», erzählt Beat Geering. Zwischenzeitlich war die junge Familie in der Gemeinde gut integriert und sie entschieden sich, im Emmental zu bleiben. Sie zogen nach Wasen in ein eigenes Haus und Beat Geering eröffnete im September 1977 im Erdgeschoss eine Hausarztpraxis. «Ich war damals fast der einzige Hausarzt weit und breit und häufig bis abends um zehn Uhr unterwegs. Meine Frau hat mich dabei oft begleitet», erinnert sich Beat Geering. Einen Ausgleich zu den langen Arbeitszeiten fand er im Leichtathletiksport. Darüber hinaus war der fünffache Familienvater zehn Jahre im Gemeinderat und im Verwaltungsrat des Inselspitals Bern, davon einige Jahre als Vizepräsident, tätig. Drei angehenden Ärzten konnte Beat Geering in den gesamthaft 46 Jahren ein Praktikum ermöglichen. Hansueli Käser, heute Arzt in Sumiswald, hat sein letztes Jahr der FMH-Ausbildung bei ihm absolviert und ihn gleichzeitig nach seinem Schlaganfall für ein Jahr vertreten. Bereits sein Vater Markus Käser durchlief sein Praktikum bei Beat Geering. Auch Claudius Uehlinger, der später eine eigene Praxis in Wasen eröffnete, bestritt dort seine Famulatur.

Mobiltelefon vom Schwarzmarkt
Als Beat Geering seine Hausarztpraxis eröffnete, gab es noch keine Mobiltelefone. Wenn er unterwegs war, musste seine Frau zuhause das Telefon hüten. «Mein erstes Mobiltelefon hatte ich in den achtziger Jahren auf dem Schwarzmarkt gekauft. Das war eine etwa zehn Kilo schwere Kiste, die 10 000 Franken kostete», erzählt er schmunzelnd. Trotz der hohen Kosten war die Erreichbarkeit eher gering, dennoch ermöglichte es dem Hausarzt etwas mehr Freiheit und er konnte sich während des Notfalldienstes auch im Garten aufhalten. Doch die PTT (heute Post und Swisscom) erlaubte solche Mobiltelefone noch nicht. «Irgendwann war mal jemand von der PTT bei uns im Haus. Kurz bevor er das Haus verliess, sah er das Mobiltelefon und nahm es mir weg.» Etwas später erhielt Beat Geering es wieder zurück. Heute steht es im Wartezimmer und erinnert seine Patientinnen und Patienten an frühere Zeiten. Bis ins Jahr 1995 hat der leidenschaftliche Arzt die Krankengeschichten noch von Hand in die Patientenakten geschrieben. Dann hielt der Fortschritt in der Praxis an der Lempigenstrasse Einzug. Die ersten Programme für den Computer kamen auf. Damit war auch die Zeit, wo er und seine Frau die Krankenakten mit in die Ferien nahmen, um die Abrechnungen zu machen, vorbei.

Unvergessliche Erlebnisse
Beat Geering denkt gerne zurück an die Jahre, die er als Hausarzt in Wasen praktizierte. «Ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde, war mein erster Todesfall in Wasen», erzählt er. «Zusammen mit der Gemeindeschwester hatten wir uns abends um elf Uhr mit meinem Allrad-Auto auf den Weg gemacht und dass der Pfarrer nicht am nächsten Tag zu Fuss dorthin musste, nahmen wir ihn gleich mit. Als ich aus dem Schlafzimmer kam, in dem der Verstorbene im Bett lag, bat uns seine Frau noch etwas zu bleiben und bot uns Kaffee an. Bis in die frühen Morgenstunden hat sie erzählt. Dann um vier Uhr morgens sagte sie plötzlich, dass sie müde sei und nun schlafen gehe. Sie ging in das Zimmer, wo ihr toter Mann lag, und legte sich zu ihm ins Bett.» All die Jahre, als Hausarzt praktizieren zu dürfen, seien eine schöne Zeit gewesen, er würde sofort wieder den gleichen Beruf wählen. «Ein solches Verhältnis, wie ich es über all die Jahre mit meinen Patienten und ihren Familien aufgebaut habe, gibt es heute kaum mehr», sagt er etwas wehmütig. Seine Patientinnen und Patienten haben die Nachricht zu seiner bevorstehenden Pension mit Verständnis aufgenommen. «Eine Patientin bedauerte, dass die schönen Zeiten nun vorbei seien, wo sie mit ihrem Kind noch um zwei Uhr nachts vorbeikommen könne.» Für Beat Geering waren solche Arbeitszeiten nie eine Belastung. «Ich musste ja nur die Treppe hinunter gehen und schon war ich in der Praxis. Ich hätte es nie anders haben wollen.» Nun ist ihm das gelungen, wovon heute viele andere kurz vor der Pensionierung stehenden Hausärzte und Hausärztinnen kaum zu träumen wagen, er hat nach nur zwei Jahren Suche einen Nachfolger gefunden. War es einfach Glück? «Wahrscheinlich schon», gesteht Beat Geering. Der Grund, weshalb es heute schwierig ist, eine Nachfolge zu finden, vermutet Geering darin, dass junge Ärztinnen und Ärzte nicht mehr Vollzeit arbeiten möchten und die Verantwortung nicht allein tragen wollen. Zudem sei die Eröffnung einer eigenen Praxis ein finanzielles Risiko.

Landarzt mit Herz
Über die Finanzen muss sich sein Nachfolger Francesco Pilato keine Sorgen machen. Er kann ab dem 1. Januar 2024 eine gut gehende Hausarztpraxis mit treuer Kundschaft übernehmen. Durch einen befreundeten Arzt vom Spital Burgdorf hat Francesco Pilato von der Praxis in Wasen erfahren und sich sofort mit Beat Geering in Verbindung gesetzt. Eine eigene Landpraxis führen zu können, war schon immer sein Wunsch. Der gebürtige Norditaliener stammt aus Turin, einer Stadt, die von 1861 bis 1865 die Hauptstadt des Königreichs Italien war. Er verfügt über jahrelange Erfahrung in der Notfallmedizin, der Allgemeinen Medizin und der Thoraxchirurgie. Die medizinische Ausbildung hat er in Italien abgeschlossen. Seit vielen Jahren schon lebt er nun in der Schweiz, verfügt über eine offi­zielle Berufsbewilligung und hat in Lugano, Lausanne und im Kanton Bern praktiziert. Zuletzt in einer grösseren Gruppenpraxis. «Wenn ich auf
mein bisheriges Berufsleben zurückschaue», erzählt Francesco Pilato, «weiss ich, das war der einzige Weg, mein Leben zu führen. Ich habe die medizinische Ausbildung geliebt. Ich liebe es, in der Nähe der Patienten zu sein. Es ist persönlicher in einer Landpraxis als in einem Spital zu arbeiten. Im Spital besteht das Risiko, dass der Patient eine Nummer ist.» Für ihn stehe die Beziehung zwischen Arzt und Patienten an vorderster Stelle. Er bezeichnet sie gar als zerbrechlich, etwas zu dem man Sorge tragen müsse. Deshalb möchte Francesco Pilato, wenn er im Januar 2024 die Praxis übernimmt, auch nichts verändern. «Für die Patienten ist ein neuer Arzt bereits eine grosse Umstellung, deshalb fahre ich genau gleich weiter, wie es Beat Geering gemacht hat», verspricht er. Ebenfalls wird er sämtliche Angestellten übernehmen. Als nächstes wird Beat Geering und seine Frau Marie Thérèse im eigenen Haus eine weitere Wohnung für Francesco Pilato einbauen. «Unsere Wohnung ist für uns zwei, seitdem die Kinder ausgezogen sind, zu gross, da kann man gut zwei Wohnungen daraus machen», erklärt Beat Geering, der sich freut, schon bald mehr Zeit für seine Kinder und die 15 Enkelkinder zu haben. Etwas mehr Zeit wird dem Ehepaar nun auch für die geliebten Besuche in der Oper und dem Ballett zur Verfügung stehen.

Von Marion Heiniger