• Professorin Christine Seidler (rechts) im Gespräch am Dencity-Marktstand am Zibelemärit. · Bilder: Patrik Baumann

  • Gemeindepräsident Walter Rohrbach im Raumbüro beim Gespräch mit einer Besucherin.

29.10.2019
Huttwil

«Huttwil ist im Ausnahmezustand!»

Seit gut einem Jahr sind die Forschenden der Berner Fachhochschule in Huttwil unterwegs und analysieren, wie es zu der hohen Zahl an leerstehenden Wohnungen gekommen ist, welche Auswirkungen diese auf die Entwicklung der Gemeinde haben und sammeln Lösungsideen, wie die Herausforderung angegangen werden kann. Am Rande des Zibelemärits präsentierte Christine Seidler, Co-Leiterin des Kompetenzbereiches Urbane Entwicklung und Mobilität der Berner Fachhochschule BFH, nun die alarmierenden Forschungsergebnisse.

Seit längerem ist Huttwil in den Medien nicht als «Blumenstädtli» sondern als «Leerwohnungsstädtli» präsent. Das Städtli belegt zwar nicht mehr den Spitzenplatz auf der unrühmlichen Rangliste, was jedoch mit der Messmethode und weniger mit Leerwohnungen oder mehr Einwohnern zu tun hat. Denn seit diesem Jahr zählen nur noch Wohnungen, die zur Dauermiete auf dem Markt angeboten werden, bis dahin wurden stets alle Wohnungen mit einbezogen.
Gab es nach der alten Zählart 2018 320 Altbauwohnungen und 56 Neubauwohnungen, die leer standen, waren es im Juni 2019 «nur» noch 178 Altbauwohnungen und 33 Neubauwohnungen, die auf dem Markt angeboten wurden und damit als leerstehend in die Statistik eingingen. «Wir rechneten nach und berücksichtigten auch die 52 neuen Einwohner, die Huttwil im letzten halben Jahr gewann und kamen auf ein erschreckendes Fazit: Es muss demnach vor Ort mindestens 113 nicht vermittelbare Wohnungen geben», erklärte die BFH-Professorin Christine Seidler.

Neubauten verhindern Sanierungen
Erschreckend ist die hohe Zahl, weil davon vor allem Wohnungen im historischen Städtli betroffen sind. «In Huttwil stellen wir eine grosse Binnenwanderung fest: Menschen ziehen aus ihren Altbauwohnungen im Zentrum in die neuen Wohnungen im Speckgürtel um», weiss Seidler. Die neuen Wohnungen seien weniger dem Lärm des Durchgangsverkehrs ausgesetzt, moderner gebaut und aufgrund der anhaltend hohen Leerwohnungsbestände zum Teil gar günstiger.
«Den grossen Immobilienfondsverwaltern, welche den Speckgürtel aus Neubauten um das Huttwiler Zentrum bauten, schmerzen tiefere Mieteinnahmen nicht gross. Tiefere Mieteinnahmen schmerzen die Besitzer von Altbauwohnungen im Städtli», erklärte Seidler. Diese Tatsache ist beispielsweise in den Bauinvestitionen des letzten Jahrs sichtbar: Zwei Drittel der gut 33 Millionen Franken gingen in Neubauten, während nur ein Drittel für den Umbau bestehender Wohnungen eingesetzt wurde.
«Über zwei Drittel der leerstehenden Wohnungen gehören privaten Eigentümern wie Familien oder Erbengemeinschaften», so die Professorin, «und bei den meisten Häusern handelt es sich um Erspartes, das fürs Alter auf die Seite gelegt wurde.» Wegen den allgemein tieferen Mietzinsen durch die Konkurrenz des Speckgürtels werden die Altbauwohnungen weniger saniert und die Attraktivität nimmt weiter ab, so das grobe Muster der Negativspirale.

Gigantische Immobilienfonds
Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass in Huttwil derart gebaut wurde und noch immer Projekte geplant sind? Seidler sieht vor allem ein Problem: «Die Kapitalisierung des Bodens führte dazu, dass zu viel Land am falschen Ort eingezont wurde.» Investoren hätten ihr Geld in Bauland und Immobilien parkiert, und dies nicht zu knapp: Das Team um Seidler rechnete aus, dass die Immobilienfonds enorm wachsen. Waren 1991 in der ganzen Schweiz noch 3 Milliarden Franken in Immobilienfonds investiert, waren es im Juli dieses Jahrs bereits 47 Milliarden Franken.
Noch höher fällt die Zahl drei Monate später, im September 2019 aus: 54 Milliarden, also 15 % mehr als im Sommer des gleichen Jahres, wurden in Immobilienfond investiert. Diese hohe Summe entspricht dem viereinhalbfachen Jahresbudget des Kantons Bern und will irgendwo investiert werden. Huttwil hat es getroffen, weil viel Bauland angeboten wurde.

Confiserie und Raumplanung
«Huttwil gleicht heute einem Donut», verglich Seidler. Das amerikanische Zuckergebäck mit dem Loch in der Mitte könnte auf die Karte gelegt werden und es würde sichtbar, dass die Bautätigkeit am Städtlirand zu Leerstand im Zentrum führe. «Es gilt jetzt, aus Huttwil wieder einen Berliner zu machen», führte Seidler die Überlegungen aus, «der Ortskern, also die Mitte der Gemeinde, muss unbedingt erhalten und revitalisiert werden.»

Ein temporärer Baustopp?
Dazu wurden bis heute auf der Website «Städtliwerkstatt» und in verschiedenen Workshops Dutzende von Ideen gesammelt und diskutiert. Weiter sehen die Experten der Fachhochschule Handlungsbedarf im Umgang mit dem Leerstand: «Huttwil muss eine Strategie entwickeln, wie dem Leerstand begegnet werden kann. Wir sehen als Möglichkeit einen temporären Baustopp, die Einrichtung von Planungszonen oder die aktivere Zwischennutzung von Objekten», so Seidler.
«Auch das Amt für Raumplanung und Gemeinden bietet Hand zu Lösungen ausserhalb der Norm», wusste Seidler, «denn Huttwil befindet sich heute im Ausnahmezustand: Wenn das Ortsbild des Städtlis erhalten werden soll, muss jetzt gehandelt werden.» Gleichzeitig sie es wichtig, dass mit der Bevölkerung geplant werde: «Es muss echte Partizipation möglich sein, eine Diskussion auf Augenhöhe.»

Die Gemeinde ist gefordert
Angesprochen auf die mögliche Stelle eines «Leerstand-Concierges», welcher Besitzer von unvermieteten Wohnungen beraten und den Ideen aus der Städliwerkstatt zum Start verhelfen könnte, meinte der Gemeindepräsident Walter Rohrbach (BDP), dass die Schaffung einer Stelle, wie von der BFH gefordert, nun geprüft werde. «Bei der Umsetzung aller Ideen müssen wir aber unbedingt Acht geben, dass keine Papiertiger entstehen, die zwar gut tönen, aber in der Praxis nicht funktionieren.»
Denn, so Rohrbach, die BFH fordere Vieles von der Gemeinde, die nun zuerst überlegen müsse, was überhaupt ihre Aufgaben seien und auch prüfen, welche Lösungen überhaupt mehrheitsfähig sind.

Nur noch kurze Zeit Hilfe von Dencity
Dencity, der Kompetenzbereich für urbane Entwicklung und Mobilität der BFH, ist noch bis Ende Januar vor Ort und hilft mit, Strategien zu planen und anzuschieben. Bis da hat die Gemeinde noch Hilfe, danach muss sie selbst Herrin der Lage werden, um den Teufelskreis der hohen Leerwohnungen zu durchbrechen.

Gut zu wissen
Wer die Ideen anderer lesen, Gedanken an die Gemeinde mitteilen oder mitarbeiten möchte, findet alle nötigen Informationen auf der Website von Dencity und der Einwohnergemeinde: www.stedtliwerkstatt.ch

Von Patrik Baumann