«… ich flehe Sie an, lassen Sie uns mit den Bohnen nicht im Stich …»
Die Welt kennt Albert Schweitzer (1875–1965) als Urwaldarzt in Lambarene (Gabun/Afrika), als Theologen, Philosophen, Organisten, Schriftsteller, Atom-Kritiker und Friedensnobel-Preisträger. Der «homme de Gunsbach und citoyen du monde» hatte auch zum Emmental einen ganz besonderen Bezug. Im Mai 1922, also vor genau 100 Jahren, besuchte er nicht weniger als neun Orte im Grossraum Emmental.
Emmental/Oberaargau · Albert Schweitzer wurde am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Elsass als Sohn einer Pfarrerfamilie geboren. Dass er einen frühen Bezug zum Emmental und dessen damals bekanntesten Exponenten, dem Dichter-Pfarrer aus Lützelflüh, Albert Bitzius – Jeremias Gotthelf – hatte, geht aus seiner Schrift «Aus meiner Kindheit und Jugendzeit» hervor. Der junge Elsässer beschreibt den «Büchergeruch» im Studierzimmer seines Vaters und berichtet dabei, wie er nach und nach Verständnis für Geschichten erlangte, die über Dorforiginale und Landleben im Elsass handelten. Dabei sei das literarische Vorbild seines Vaters «Jeremias Gotthelf, der als Schriftsteller bekannte schweizerische Pfarrer… gewesen …, nur war mein Vater rücksichtsvoller als dieser. Er vermied es, die Leute, die ihm zu den Personen der Geschichten Modell gesessen hatten, so deutlich zu zeichnen, dass sie erkennbar waren …»
Kröschenbrunnen und Afrika
In Kröschenbrunnen bei Trubschachen unterrichtete in den 1920er-Jahren die junge Lehrerin Anna Joss. Alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen charakterisiert sie im Vorwort des Buches «Albert Schweitzer im Emmental», «… mit einem Blick, der weit über die Hügel, Täler und Gräben ihrer Heimat hinausreichte…» Ihre Einladung an den «Urwalddoktor» fand Gehör und die Freude in Kröschenbrunnen und dem Emmental war riesig, als es im Mai 1922 zu den persönlichen Kontakten mit Vorträgen und Orgelkonzerten kam: Burgdorf (4.5.), Huttwil (15.5), Konolfingen-Stalden (14.5.), Langnau (22.5.), Lützelflüh (16.5.), Münsingen (19.5.), Oberdiessbach (14.5.), Trubschachen (21.5.), Worb (17.5.). Bis 1957, seinem letzten Aufenthalt in Europa, hielt Schweitzer in gut neunzig Orten in der Schweiz Vorträge, Orgelkonzerte und Predigten.
Im Nachlass von Anna Joss kamen über 300 Schriftstücke zum Vorschein, die über 40 Jahre andauernde Verbindung mit Albert Schweitzer dokumentieren. Insbesondere die legendären Dörrbohnen, Landjäger und Kambly-Biskuits waren in Afrika stets sehr willkommen und wurden während Jahren am Samstagabend als «Repas Suisse» mit wohl etwas Wehmut nach Europa genossen. Als eine Mitarbeiterin Schweitzers Anna Joss schrieb, sie solle weniger Bohnen senden, kam postwendend die Antwort des Urwalddoktors: «… also, ich flehe Sie an, lassen Sie uns mit den Bohnen nicht im Stich. Je mehr desto besser. Sagen Sie niemand nichts von dem Brief von Fräulein Mathilde, er ist wirklich absolut gegenstandslos. Ach, dieses Dazwischenreden von anderen. Aber glauben Sie mir, ich weiss, was Recht ist. Ach, wie freuen wir uns auf die Suppe mit Maggi Würfeln, Karotten und Bohnen …»
Aus dem umfangreichen Briefwechsel zwischen Anna Joss und Albert Schweitzer sticht ein Satz heraus, der die enorme Freiwilligenarbeit und Solidarität ungezählter Menschen unseres Landes nicht besser würdigen könnte. Schweitzer hält in einem Brief nach Kröschenbrunnen fest: «… Was würde mein Spital, wenn ich nicht auf die Hilfe aus der Schweiz zählen könnte!»(*)
Eine Welt ohne Atomrüstung
Anfangs Jahr 2022 sorgte eine Meldung über die Atomrüstung in den internationalen Medien für Schlagzeilen. Die Mitgliedstaaten des UNO-Sicherheitsrates – USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien – haben sich verpflichtet, «die weitere Verbreitung» von Atomwaffen zu verhindern. Sie betonen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf. – Und nun leben wir in der grossen Ungewissheit, wie sich die unsäglichen Kriegshandlungen in der Ukraine weiter entwickeln und was Putin mit seinem Atomarsenal noch beabsichtigt! Da muss wieder mal mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass Albert Schweitzer zur Zeit des Kalten Krieges und der Höchstspannung zwischen den USA und Russland bereits am 23. April 1957 über Radio Oslo seinen ernsthaften, uns deutlichen Appell gegen die Atomrüstung gerichtet hat.
«… in der Situation, in der wir uns befinden, kommt es nicht auf interessante Symbole an, sondern dass wir das Maul aufreissen und die Welt mit unserem Geschrei gegen die Schweinerei der A-Versuchsexplosionen erfüllen ...»
Ehrfurcht vor dem Leben
In den aktuellen Diskussionen um Migrationsströme, Klimawandel, Umweltschäden mit Plastikbergen noch und noch, oder mit Plakaten am Wegrand über Emmentaler Hügel hinweg mit dem Aufschrei einer karikierten Kuh: «Ich fresse lieber Gras – als Ihren Abfall», sollte dem Wort «Ehrfurcht», das im Brockhaus mit «höchster Wertschätzung» erklärt und dem Hinweis auf Albert Schweitzers «Ehrfurcht vor dem Leben» als Grundprinzip des Sittlichen vermerkt wird, wieder mehr Bedeutung zukommen. Schweitzer hat mit seiner «Ehrfurcht vor dem Leben», bei der es nicht nur um das Zwischenmenschliche im Alltag von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, schlechthin geht, auch die Verantwortung gegenüber der Natur und Tierwelt eingeschlossen und präzisiert: «Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben das leben will.» Damit sind wir mit seiner Aussage mitten im Alltag des Jahres 2022 angelangt!
(*) Eine gleichnamige Schrift mit viel Emmental Bezug kann unter: praesident@albert-schweitzer.ch bezogen werden. www.albert-schweitzer.ch
Von Fritz von Gunten, Präsident Albert-Schweitzer-Werk