• Dominique Hirschi erzählt über seine Nahtoterfahrung, sein Leben im Rollstuhl und seine Beziehung zu Gott. · Bild: Thomas Peter

14.03.2019
Oberaargau

«Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts mehr wert bin»

Der 9. April 2013: Ein Tag wie kein anderer. Ein Unfall fesselt den Lotzwiler Dominique Hirschi für immer an den Rollstuhl. Sein Leben steht Kopf, seine Grundwerte wankten. Er haderte mit Gott, fühlte sich wertlos. Und doch strahlt der 35-Jährige Optimismus aus, als er an der «BegägnigsZyt» in der Kirche Lotzwil über sein Leben sprach. Seine Familie, seine Freunde und sein Glauben helfen ihm. «Ich denke, dass ich mit meiner Geschichte Menschen Mut machen kann.»

Lotzwil · Selbstbewusst sass der Lotzwiler Dominique Hirschi in seinem Rollstuhl. Mit einem freudigen Lächeln auf der Lippe beobachtete der bald 35-Jährige, wie immer mehr Besucher in die Lotzwiler Kirche strömten, gegen 80 dürften es letztlich gewesen sein. Ihnen erzählte er von seinem Leben, das von einem Tag auf den anderen so plötzlich nicht mehr dasselbe war. Am 9. April 2013, zwei Tage nach seinem Geburtstag, war es passiert. Dabei war schon zuvor sein Leben erschüttert worden. Ein guter Freund hatte ein halbes Jahr zuvor Suizid begangen, seine damalige Beziehung ging in die Brüche, ein Jobwechsel stand bevor. Sein schwerer Unfall beim Kitesurfen in Ägypten riss aber alles vollends aus den Fugen. «Querschnittgelähmt», wurde ihm von den Ärzten offenbart.

Es war alles anders
«Von diesem Moment an wusste ich, dass mein Leben ganz anders verlaufen wird als bisher. Niemand hat mich gefragt, ob ich das möchte. Niemand hat mich vorbereitet und niemand konnte mir genau sagen, wie mein ­Leben von da an verlaufen wird. Es war alles anders.» Er habe die Ärzte gefragt, ob er jemals wieder arbeiten könne in einem Büro. Die verneinende Antwort erschütterte ihn. «Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts mehr wert bin.» Ausgerechnet er, der es gewohnt war, mit Vollgas Leistung zu zeigen bei der ­Arbeit, den Hobbys, in der Kirche. Plötzlich konnte er nichts mehr alleine, war bei allem auf Hilfe angewiesen. Das wurde ihm besonders deutlich, als er den «Goldenen Käfig» von Nottwil verlassen habe. Zwar sei er während der zehnmonatigen Rehabilitation auf Alltagssituationen vorbereitet worden. Man habe geübt, sich in einer Stadt zu bewegen, in einem Laden einzukaufen. Vieles fiel schwer. «Dabei habe ich aber gelernt, Hilfe annehmen zu können, Leute zu fragen, ob sie mir Artikel von unerreichbaren Regalen herunterholen oder ob sie den Rollstuhl schieben könnten», erklärte Dominique Hirschi. Er habe in Nottwil gelernt, wie er trotz seiner Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. «Das waren echte Highlights für mich.»
 
Freunde fürs Leben
Doch als er Nottwil verliess, wo er umsorgt war von Berufsleuten, war alles nochmals anders. «Das Nachhausekommen war noch einmal eine Stufe heftiger.» Vieles war nicht auf ihn vorbereitet. Keine behindertengerechte Bahnhöfe in Lotzwil und Rohrbach, die Wohnung in einem ehemaligen Bauernhaus musste baulich seinen Bedürfnissen angepasst werden. Er war auf die tagtägliche Hilfe der Spitex, der Familie und der Freunde ange­wiesen. «Was ist das Schlimmste, mit diesen Einschränkungen zu leben?», wollte Pfarrer Iwan Schulthess wissen, der mit Fragen in Interviewform noch etwas tiefer ging. «Die Abhängigkeit zu haben. Am Morgen nicht mehr alleine aus dem Bett zu kommen, wann man will. Am Abend nicht mehr alleine ins Bett gehen zu können. Ich kann das nicht mehr selber.» Die Intimsphäre gehe verloren. «Ich muss mir das Alleinseinkönnen richtig hart erkämpfen.» Sein Arbeitsplatz bei der GEWA (Stiftung für berufliche Integration) in Zollikofen wurde zwar auf seine Bedürfnisse angepasst, doch viele ein­fache Tätigkeiten, wie etwa einen Brief zu falten und ins Couvert zu stecken, wurden zu einer grossen Herausforderung.  
Auch seine ersten Ferien seien speziell gewesen. «Während meine Kollegen im See baden gingen, musste ich auf der Wiese liegen bleiben und zuschauen.» Überall musste abgeklärt werden, ob es überhaupt möglich ist, mit dem Rollstuhl dort hinzukommen. «Ich muss immer jemanden mitnehmen, der die Pflege übernimmt.» Doch die Familie wie die Freunde hätten ihm stets ihre Unterstützung zugesichert: «Egal, wie wir dich antreffen, wir werden immer zu dir stehen.» Für Dominique Hirschi ist klar: «Das sind wirklich Freunde fürs Leben.»

Nahtoterfahrung
«Was für Gefühle hast du gehabt nach deinem Unfall», wollte Iwan Schult­hess wissen. «Ich war wütend, traurig, ratlos. Manchmal hatte ich das Gefühl, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn mein Leben die Abkürzung genommen hätte.» Er hatte bei seinem Unfall auch eine Nahtoterfahrung. «Es war ein relativ kurzer Moment gewesen. Ich hatte eigentlich abgeschlossen mit dem Leben. Ich hatte aber keine Angst. Ich habe ein Licht gesehen und den Freund, der ein halbes Jahr zuvor gestorben war. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass er im Himmel ist.»

Grundwerte wankten
Der Glauben war im Leben von Dominique Hirschi immer zentral. Darauf angesprochen liess er aber durchblicken: «Nach dem Unfall habe ich die Beziehung zu Gott zwischenzeitlich auf Eis gelegt.» Er habe mit Gott gehadert, konnte nicht begreifen, warum ihm das passiert sei. Er hatte doch den Eindruck gehabt: «Ich bin ein gläubiger Christ. Ich mache in der Kirche aktiv mit, ich betreibe Jugendarbeit.» Doch jetzt könne er hier nichts mehr leisten.
«Ich hatte das Gefühl, dass meine Leistung die Grundlage dafür ist, dass ich geliebt werde, dass ich wertvoll bin. Jetzt aber kann ich nichts mehr beitragen, bin ich nutzlos.» Doch Gott sei ihm in dieser Zeit wirklich begegnet. Jesus sei an seinem Bett gestanden. «Er hat mir gezeigt, dass ich nicht durch mein Leisten wertvoll bin, sondern dadurch, dass ich eben Ich bin. Gott hat mir gesagt, ich solle doch seine Liebe, die er mir geben will, zulassen, auch wenn ich ihn vielleicht nicht mehr lieben könne.» Ihm sei klar geworden: Gott habe ihm schon so viel vergeben und er habe ihm so viele gute Menschen an die Seite gestellt, die ihn unterstützten. «Das ist so krass. Ich kann seine Güte spüren und mich wieder darauf einlassen. Ich kann ihm vergeben.» Er könne zwar seine Behinderung nicht akzeptieren. «Dann würde ich sie ja gutheissen. Aber ich lerne, damit zu leben.»
Und das Leben hat auch schöne Seiten für Dominique Hirschi bereit. Vergangenes Jahr hat er sich verlobt. «Am 14. September 2019 werden wir heiraten.»

Von Thomas Peter