• Trotz der Pandemie, wenigen Wettkämpfen und einer Fussverletzung wurde Géraldine Ruckstuhl im September Schweizermeisterin im Speerwerfen. · Bild: Jörg Oegerli

15.12.2020
Sport

«Ich hatte mehr Zeit für die Familie»

Géraldine Ruckstuhl, Siebenkämpferin aus Altbüron – Die 22-jährige Siebenkämpferin Géraldine Ruckstuhl (STV Altbüron) blickt auf das spezielle Jahr 2020 zurück, dass mit einem Siebenkampf auf einer Insel im Indischen Ozean enden wird.

Leichtathletik · «2020 war für mich definitiv ein Zwischenjahr. Erstmals seit vielen Jahren rückten andere Sachen als der Sport in den Mittelpunkt, was mir gar nicht schadete», ist Géraldine Ruckstuhl überzeugt. Obwohl die Pandemie ihren Trainingsalltag nicht stoppte, veränderte sie Ruckstuhls sportliche Aussichten. «Die Absage der Olympischen Spiele 2020, für welche ich vier Jahre lang hart gearbeitet hatte, war ein echter Hammer. Und als die EM in Paris dann auch noch abgesagt wurde, war die Motivation im Keller», berichtet die Ausnahmeathletin vom STV Altbüron. «Ich war körperlich fit. Doch der Kopf spielte nicht mit. Es war nicht einfach, kein grosses Ziel zu haben.»

Fussverletzung eingefangen
Einen weiteren Dämpfer kassierte die U23-Europameisterin im Siebenkampf von 2019 im Sommer. Beim Hürdentraining verletzte sich die 22-Jährige an der Plantarfaszie. Die Schmerzen an der Fusssohle verunmöglichen während zwei Monaten ein normales Lauftraining. Damit verpasste Ruckstuhl mit der Mehrkampf- und der Nachwuchs-SM gleich zwei wichtige Titelkämpfe. «Das hat mich schon enorm gefuxt, weil ich mich in einer hervorragenden Form befand.» Umso erstaunlicher waren dann die Leistungen der Luzerner Hinterlän­derin an den Schweizermeisterschaften der Aktiven in Basel Mitte September. «Wegen der Fussverletzung konnte ich nicht richtig trainieren. Ich war so schlecht in Form wie seit vielen Jahren nicht mehr», erzählt Ruckstuhl. Trotzdem schaffte sie mit einer Weite von 47,83 Metern ihren dritten Speerwurf-Schweizermeister-Titel in Folge. Ausserdem gewann sie im Kugelstossen mit einer Weite von 13,56 Metern die Bronzemedaille. «Es waren die beiden einzigen Disziplinen, die ich nach der Verletzung einigermassen problemlos ausüben konnte. Umso mehr freute es mich, dass es doppelt zu Medaillenehren reichte», sagt Géraldine Ruckstuhl. Es war das sportliche Jahreshighlight, denn wegen der Pandemie und der Verletzung bestritt die Altbürerin fast keine Wettkämpfe.

Eigenes Pilates-Studio in Planung
Dafür nutzte Géraldine Ruckstuhl die spezielle Zeit anders. «Wegen der reduzierten Wettkampfsaison hatte ich mehr Zeit für meine Familie. Dies war wunderschön.» «Géri» nutzte die Freizeit auch, um beruflich einen Schritt vorwärts zu machen. «Dazu fehlte mir in den letzten Jahren schlichtweg die Zeit.» Ruckstuhl liess sich zur Pilates-Instruktorin ausbilden. «Bei diesem systematischen Ganzkörpertraining fasziniert mich die Tatsache, dass mit wenig Aufwand ganz viel möglich ist.» Ruckstuhl plant, ein eigenes Pilates-Studio zu eröffnen. «Wann, steht wegen der aktuellen Situation noch offen. Ich habe aber definitiv bemerkt, dass fünf Tage im Büro für mich nichts ist. Ich will den Sport auch in meiner beruflichen Tätigkeit haben.» Auch in der Leichtathletik hat sich Ruckstuhl weitergebildet. «Im Juli habe ich die Trainer-C-Ausbildung in Magglingen erfolgreich abgeschlossen.»

Wellenreiten in Portugal
Das spezielle Jahr 2020 beinhaltete weitere aussergewöhnliche Aktivitäten. Ruckstuhl unternahm einen Abstecher in die Kommentatoren-Kabine. Als Co-Kommentatorin von Philipp Bandi konnte die Siebenkämpferin am Fernsehen ihre Erfahrungen weitergeben. «Es hat riesig Spass gemacht und mir gezeigt, was ich gerne tue.» Nach der erfolgreichen SM schaltete Géraldine Ruckstuhl eine dreiwöchige Trainingspause ein. Sie nutzte diese Zeit, um an die Algarve nach Portugal zu reisen. «Ich wollte einfach den Kopf lüften und einige Tage ohne Leichtathletiktraining geniessen.» Dafür rückte das Wellenreiten in den Mittelpunkt. «Das Surfen macht einfach unglaublichen Spass. Ich konnte in kurzer Zeit grosse Fortschritte erzielen.»

Spezieller Advents-Siebenkampf
Seit Anfang November ist Géraldine Ruckstuhl wieder im Training. Und zum Jahresende wird es noch zu einem besonderen Wettkampfeinsatz kommen. Nach dem speziellen «Stunden-Siebenkampf» im österreichischen Amstetten im Juli ist es der erst zweite Siebenkampf von Ruckstuhl im Pandemie-Jahr. Zehnkampf-Weltrekordler Kevin Mayer hat Ruckstuhl eingeladen, am von ihm auf La Réunion organisierten Einladungs-Wettkampf mitzumachen. In St. Paul auf der Insel im Indischen Ozean findet der Wettkampf am 18./19. Dezember statt. «Er zählt als Qualifikationswettkampf für die Olympischen Spiele in Tokio 2021. Ich möchte deshalb die Chance nutzen, mich in der Weltrangliste weiter zu verbessern», erklärt Ruckstuhl ihre Teilnahme. Diesbezüglich sieht es aktuell sehr gut aus. Ruckstuhl liegt derzeit an der 15. Position. Für Tokio 2021 werden sich 24 Siebenkämpferinnen qualifizieren. «Ich erhoffe mir vom Wettkampf eine Standortbestimmung. Fakt ist, dass ich nie zuvor mitten in der Vorbereitung auf die Hallensaison einen Siebenkampf absolviert habe. Der Zeitpunkt ist schon ein kleines Experiment», erklärt Ruckstuhl. Neben der Tatsache, sich endlich wieder einmal mit den weltbesten Siebenkämpferinnen messen zu können, freut sich das grosse Leichtathletik-Allroundtalent auch auf das milde Klima. Nach dem Wettkampf wird Ruckstuhl zurück in die Schweiz reisen, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern.

Kurz Gefragt

Daley Thompson oder Ashton Eaton
Da sage ich klar Ashton Eaton, den Zehnkampf-Olympiasieger von 2012 und 2016. Er stammt halt aus meiner Zeit. Und ich habe ihn und auch seine Frau bereits persönlich kennengelernt. Daley Thompson ist mir aber auch ein Begriff.

Leichtathletik-Vorbild
Die britische Mehrkämpferin Jessica Ennis-Hill. Sie war eine Topathletin und blieb immer bodenständig. Wie sie nach der Babypause zurückkam und 2015 Siebenkampf-Weltmeisterin wurde, war grandios.

Freund
Habe ich keinen. Ich geniesse das Single-Leben.

Facebook
Betreibe ich immer noch, da ich auf dieser Plattform Freunde und Fans auf der ganzen Welt habe.

Instagram
Ist halt heutzutage mehr angesagt und fast ein Muss für einen Sportler.

TikTok
Ist sicher lustig. Ich habe aber kein Konto – und werde wohl auch keines anlegen. Fakt ist, dass die sozialen
Medien für mich einfach dazugehören. Es muss aber in einem guten Rahmen bleiben, denn ich will die Zeit vor allem für den Sport nutzen.

WhatsApp
Nicht wegzudenken. Benutze ich täglich. Neben dem Telefonieren mein wichtigstes Kommunikationsmittel, gerade auch mit meinem Team.

Süssigkeiten
Habe ich gerne. Ich mag aber auch Salziges.

Haustiere
Wir haben daheim Broccoli, eine Katze.  

Glücksbringer
Immer vor Grossanlässen bemale ich meine Fingernägel mit dem Schweizer Kreuz. Wenn meine Familie an Wettkämpfen dabei ist, zähle ich dies auch als Glücksbringer. Ein solcher ist auch der Stein, den mir meine Schwester einmal geschenkt hat.

Jahreszeit
Ich schätze es sehr, dass ich in einem Land leben darf, in welchem alle vier
Jahreszeiten auch stattfinden. Dies ist nicht überall so.

Instrument
Während der Corona-Zeit habe ich meine Gitarre wieder hervorgenommen. Seither spiele ich wieder ab und zu.

Zimmer aufräumen
Mache ich selber.

Tattoo/Piercing
Ich bin am überlegen, ob ich ein Tattoo machen soll. Es gibt etwa acht Stellen, wo ich es mir vorstellen könnte. Als Motiv würde ich die Olympischen Ringe und wegen meines Übernamens eine Kirsche wählen.

Regeneration
Das A und O im Sport. Leistung ist nur mit genügend Erholung möglich.

Frühaufsteherin
Das bin ich definitiv nicht.