• «Willkommen Kläri». Empfang am Bahnhof von Güllen (von links): Pfarrer (Dominik Müller), Lehrer (Bruno Lädrach), Stadtpräsident (Dominik Zürcher) sowie zwei Bürger (Werner Kunz und Roland Müller). · Bild: Patrick Pfeiffer

01.12.2016
Emmental

Jetzt Dürrenmatt, später Gotthelf zu Besuch

«Der Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt: Die Emmentaler Liebhaberbühne (ELB) bietet diese Tragikomödie zurzeit im Rüttihubelbad in Walkringen. Die berndeutsche Fassung von Ulrich Eggimann beeindruckt, stimmt nachdenklich und bietet tolle schauspielerische Leistungen.

Erst vier von 22 ELB-Vorstellungen des Dürrenmatt-Klassiker sind vorbei und doch kristallisiert sich aufgrund der Publikumsreaktionen bereits heraus, wie gut dieser Stoff um Moral oder Geld ankommt. Regisseur und Mundartverfasser Ulrich Eggimann versteht es mit seinem Ensemble vortrefflich, die sich krass ändernde Gefühlslage im  heruntergewirtschafteten Ort Güllen zu zelebrieren. Die Rollen sind optimal besetzt. Franziska Oppliger spielt die durch Heirat zur Multimilliardärin gewordene Claire Zachanassian ebenso pointiert, wie der routinierte Laienschauspieler Hans Rudolf Kummer, der als Alfred Ill zunehmend in Bedrängnis gerät. Seine Verzweiflung ist seh-, hör- und fühlbar. Starke Leistung.

Willkommene Finanzspritze
Güllen ist längst nicht mehr, was es einmal war. Das sehen auch jene beiden Männer so, die gelangweilt am Bahnhof auf einer Bank sitzen und hier den durchbrausenden Zügen zuschauen. Früher sei Güllen «von Bedeutung im ganzen Land –  gar in Europa» – gewesen. Heute halte kaum mehr ein Regionalzug. Plötzlich wird der Bahnhof belebt. Dafür sorgen angesehene Bürger von Güllen, die hohen Besuch erwarten: Milliardärin Claire Zachanassian. Diese soll bereit sein, Güllen mit einer Finanzspritze von einer Milliarde wieder auf die Beine zu helfen. Die Schwerreiche trifft früher als erwartet ein, weil sie den Eilzug bevorzugt hat und diesen am Bahnhof Güllen mit der Notbremse stoppt. Das Quietschen der Bremsen ist genial und geht dem Publikum durch Mark und Bein. Der Stadtpräsident (Dominik Zürcher) unterstreicht in seiner Begrüssungsrede die Pflanzen- und Tierliebe der Multimilliardärin – weil er erfahren hat, dass diese, die früher als Klara Wäscher in Güllen lebte, im entsprechende Schulfach immerhin ein «genügend» erhielt.   
Makaber: Claire Zachanassian bringt einen Sarg mit. Bald ist klar, für wen dieser gedacht ist – für Krämer Alfred Ill. An ihm will sie sich rächen und – wenn auch spät – Gerechtigkeit erfahren. Er soll umgebracht werden. Dies ist ihre Bedingung an die Güllener, die für Ills Tod mit einer Milliarde entschädigt werden sollen.

Unmoralisches Angebot
Die Bevölkerung gibt sich entsetzt und unbestechlich. Sie beklatscht laut und euphorisch die Ablehnung dieses unmoralischen Angebots. Allmählich kippt die Stimmung. Die in Aussicht gestellte Milliarde löst eine eklatante Lust am Einkaufen aus. Die neue Waschmaschine, der grössere Fernseher und viele andere Dinge werden jedoch nicht bezahlt. «Schribets uf», heisst die Devise. Die Güllener leben auf Pump. Das verdächtige Verhalten beunruhigt Alfred Ill, der beim Polizisten (Emanuel Gfeller) vergeblich die Verhaftung der Milliardärin fordert. Ob Arzt (Peter Eggimann), Lehrer (Bruno Lädrach) oder Pfarrer (Dominik Müller): alle wenden sich zusehends von Alfred Ill ab, der als knapp 20-Jähriger die damals 17-jährige Klara Wäscher, die heute Claire Zachanassian heisst, geschwängert hatte, dann aber nicht dazu stand und den Vaterschaftsprozess prompt gewann. Er hatte zwei Zeugen mit einem Liter Schnaps bestochen. Als Geächtete musste Klara Wäscher hochschwanger Güllen verlassen. Die junge Frau gebar ein Mädchen, Genevieve, das ihr weggenommen wurde und dann einjährig an einer Hirnhautentzündung starb.    
Nun soll Alfred Ill für dieses Unrecht büssen – mit dem Tod. Arg bestraft hat die Milliardärin bereits die zwei Kerle, die damals einen Meineid zugunsten Alfred Ills leisteten. Die wohlhabende alte Dame suchte und fand beide, liess sie kastrieren und blenden. Seither begleiten diese beiden blinden Eunuchen (Matthias Egger und Hans Gfeller) Claire Zachanassian auf ihren Reisen ebenso, wie dies Butler Boby (Franz Mumenthaler) tut. Dieser ist dafür besorgt, dass die Wohlhabende im weissen Anzug beim Relaxen stets mit Zigarre und Whisky versorgt ist.

«Adieu Alfred»  
Unter Fichte, Föhre, Buche und Tanne – köstlich dargestellt – sitzen Alfred und Klara auf jenem Stein, auf dem sie sich damals erstmals geküsst hatten. Sie schwelgen in Erinnerung. «I ha di gärn gha, du hesch mi vürrate», so Klara alias Claire. Ohne sich die Hand zu reichen verabschieden sie sich voneinander. «Adieu Alfred», sagt sie, «adieu Klara» er. Diese starke, unter die Haut gehende Szene ändert nichts daran, dass die Milliardärin ihr Vorhaben in die Tat umsetzen und ihre grosse Liebe von einst umbringen lassen will.
Der Stadtpräsident schiebt Alfred Ill schon mal eine geladene Pistole zu und hofft, dieser möge seinem Leben damit ein Ende setzen. Das tut er nicht, obschon Ill zugibt, eigentlich «ein lächerliches Leben» zu führen. Der Krämer will jedoch das Urteil der Bürgerversammlung akzeptieren. Ehemalige Freunde Ills votieren mit Herzblut gegen ihn. Die Abstimmung fällt entsprechend aus: Geld siegt über Moral. Bald liegt Alfred Ill, buchstäblich in die Enge getrieben, tot am Boden. «Herzschlag», so die Diagnose des Arztes. Die Gemeinde erhält den Milliardencheck. Besuch und Mission der alten Dame sind beendet.
Das Publikum ist ob der Handlung bedrückt, von der Darbietung aber tief beeindruckt. Die ELB hat den Dürrenmatt-Klassiker zum Erlebnis erster Güte werden lassen.
Der Beifall ist verdient und lange anhaltend. Bis zur Derniere am 5. Februar 2017 stehen noch 18 Vorstellungen auf dem Programm. (Reservationen unter: www.elb.ch) Auch in einem Jahr bietet Ulrich Eggimann mit der ELB ein berndeutsches Stück: Gotthelfs «Geld und Geist». 

Von Hans Mathys